Dies & Das: Streiflichter vom 6.10.2020…#1

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Daniel Kehlmann

06.10.2020

Ein Pandemie-Sketch von Schriftsteller Daniel Kehlmann

Corona verbietet uns ungeheuer vieles. Und manchmal das Falsche. Wie etwa einen zweiten Koffer ins Flugzeug mitzunehmen.

Koffer stapeln sich auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof, Berlin. Stefan Zeitz / Imago

Am Flughafen Tegel im Juni 2020, an der Sicherheitskontrolle. Ein Gepäckwächter steht bereit. Ein Reisender kommt heran, er hat einen Handgepäckskoffer und einen Laptop unter dem Arm.

GEPÄCKWÄCHTER: Stopp!

REISENDER 1: Ja?

GEPÄCKWÄCHTER: Nur ein Stück Handgepäck erlaubt

REISENDER 1: Hab ich doch.

GEPÄCKWÄCHTER: Und was ist das? (Er zeigt auf den Laptop.)

REISENDER 1: Bitte?

GEPÄCKWÄCHTER: (Er zeigt auf die Tasche.) Muss da rein!

REISENDER 1: Warum?

GEPÄCKWÄCHTER: Corona! Schon mal gehört von?

REISENDER 1: Was? Was hat denn das mit . . .

GEPÄCKWÄCHTER: (Dröhnend:) Corona!!!!

Der Reisende zuckt die Achseln und verstaut seinen Computer in seiner Tasche. Mit etwas Drücken und Drängen geht es. Kopfschüttelnd geht er weiter. Ein Mann und eine Frau kommen, er hat zwei Taschen, sie keine.

GEPÄCKWÄCHTER: Stopp!

REISENDER 2: Ja?

GEPÄCKWÄCHTER: Zwei Taschen? Nee! Corona!

REISENDER 2: Ach so . . . Moment. (Er gibt eine der zwei Taschen der Frau.) Besser so?

GEPÄCKWÄCHTER: Na geht doch!

Die beiden gehen kopfschüttelnd weiter. Ein Musiker mit einem Koffer und einer Geigentasche kommt heran.

GEPÄCKWÄCHTER: Halt!

Der Musiker bleibt stehen.

MUSIKER: Ja?

GEPÄCKWÄCHTER: Zwei Handgepäckstücke. Geht nicht!

MUSIKER: Ich fliege Businessclass.

GEPÄCKWÄCHTER: Egal.

MUSIKER: Ich meine, ich fliege extra Business, damit ich die Geige –

GEPÄCKWÄCHTER: Interessiert mich nen feuchten Kehricht.

MUSIKER: Ich hab es schriftlich von der Lufthansa. Wenn man Business fliegt, hat man das Recht auf zwei Stück Handgepäck. Nur deshalb fliege ich doch Business. Ich fliege doch nicht wegen des Essens Business!

GEPÄCKWÄCHTER: Was die Lufthansa sagt, ist mir schnuppe, wir arbeiten für den Flughafen Tegel, und hier ist die Regel: Es gibt nur ein Stück Handgepäck.

MUSIKER: Warum?

GEPÄCKWÄCHTER: Corona! Schon mal gehört von?

MUSIKER: Was hat das mit Corona zu tun?

GEPÄCKWÄCHTER: Das diskutier ich doch nicht mit Ihnen.

MUSIKER: Das ist eine Guarneri, die kann ich nicht einchecken.

GEPÄCKWÄCHTER: Hier kommen Sie nicht mit zwei Gepäckstücken vorbei!

MUSIKER: Kann ich Ihren Vorgesetzten sprechen?

GEPÄCKWÄCHTER: Bin ich.

MUSIKER: Bitte?

GEPÄCKWÄCHTER: Vorgesetzter ist keiner da. Hier bin nur ich.

MUSIKER: Es muss doch einen Vorgesetzten . . .?

GEPÄCKWÄCHTER: Home-Office.

MUSIKER: Das kann doch nicht wahr sein. (Er bemüht sich, ruhig zu bleiben.) Erklären Sie mir doch einfach – auf welche Art bekämpfen Sie ein Virus, indem Sie mich zwingen, eine Guarneri-Geige einzuchecken?

Eine Frau mit einer Handtasche und einem kleinen Rollkoffer kommt heran.

GEPÄCKWÄCHTER: Ich diskutier nicht. Sie kommen hier nicht durch. Sie gehen jetzt zurück zum Schalter und checken eins von beiden ein, oder Sie gehen wieder nach Hause mit Ihrem Krempel!

MUSIKER: Aber das hat doch gar keinen Sinn!

GEPÄCKWÄCHTER: Sie halten alles auf hier!

Der Musiker sieht sich um, hinter ihm ist immer noch nur die eine Frau. Er ist den Tränen nahe.

MUSIKER: Ich muss in Wien ins Tonstudio, und ich muss diese Maschine nehmen. Das ist meine Geige, die kann ich nicht weggeben, und in diesem Koffer ist mein Computer und meine Medizin. Ich bin zuckerkrank. Ich bitte Sie inständig –

GEPÄCKWÄCHTER: Jetzt weg hier, oder ich ruf die Sicherheit!

Der Musiker ist nahe am Nervenzusammenbruch.

MUSIKER: Aber sagen Sie mir wenigstens: Warum?

GEPÄCKWÄCHTER: (Brüllend:) Corona!!!

Der Musiker gibt auf und wankt zurück zum Check-in.

GEPÄCKWÄCHTER: (Zu der reisenden Frau:) Zwei Handgepäckstücke. Ist verboten.

REISENDE: Ich weiss, ich hab’s gehört. Verstehe ich das richtig? Der Flughafen hat die Regeln geändert, und kein Passagier weiss davon, und die Fluggesellschaften wissen das auch nicht, und Sie erklären auch nicht, was Sie mit diesen Regeln eigentlich im Sinn haben?

GEPÄCKWÄCHTER: Ist mir egal, wer was weiss. Ich steh hier, um aufzupassen, dass jeder nur ein Stück Handgepäck hat.

REISENDE: Aber wenn in allen Mails der Fluggesellschaften und auf allen Websites steht, man darf in Business zwei Gepäckstücke und in Economy ein Gepäckstück plus einen «persönlichen Gegenstand» mitnehmen, dann heisst das doch vermutlich, dass Sie zur Zeit fast jeden Passagier zurückschicken?

GEPÄCKWÄCHTER: Wenn sich keiner an die Regeln hält, schick ich alle zurück. An die Regeln muss man sich halten. Wo sind wir denn!

REISENDE: Aber wenn keiner von den Regeln weiss?

GEPÄCKWÄCHTER: Nicht mein Problem.

REISENDE: Und wenn so eine Regel dann auch überhaupt keinen Sinn hat?

GEPÄCKWÄCHTER: Wie – keinen Sinn? Ist wegen Corona!

REISENDE: Wissen Sie, ich bin Ärztin, und ich sage Ihnen –

GEPÄCKWÄCHTER: Sie halten alles auf!

Die Frau sieht sich um. Hinter ihr steht niemand.

REISENDE: Schauen Sie, ich kann meine Handtasche in meinen Koffer stecken, aber verraten Sie mir – was bringt das?

GEPÄCKWÄCHTER: Bitte?

REISENDE: (Zum Publikum:) Das gehört zu den Dingen, die dann später vergessen sein werden. Wenn alles vorbei ist. Handgepäck in Tegel, wen interessiert das schon?, wird man sagen, bei so viel Leiden, so vielen Toten, wen interessiert dann noch dieser Handgepäckswächter in Tegel? Aber wenn es einem zustösst, wenn man zum Beispiel eine Geige dabei hat und Medizin und wenn man vor der gewaltigen, überwältigenden tsunamihaften Unsinnigkeit steht, der man sich einfach fügen muss, ohne Diskussion, ohne Frage, dann ist es nicht unwichtig. Es wird später unwichtig gewesen sein. Aber in diesem Moment . . . (Sie wendet sich wieder an den Gepäckwächter:) Oder? In diesem Moment nicht. Und es geht doch um Momente. Aus denen besteht das Leben doch.

Er starrt sie an. Sie öffnet ihren Koffer, legt die Handtasche hinein und schliesst ihn wieder.

GEPÄCKWÄCHTER: Na geht doch.

REISENDE: Sie wissen, dass ich die Tasche in zwanzig Metern wieder rausnehme?

GEPÄCKWÄCHTER: Nicht mein Problem.

REISENDE: (Sie will an ihm vorbei und bleibt doch noch einmal stehen.) Sagen Sie es nochmals. Ich will’s hören. Ich will es mir merken. Für später. Wenn alles vorbei ist.

GEPÄCKWÄCHTER: Was?

REISENDE: Warum schicken Sie jeden einzelnen Reisenden zurück, ohne je eine Ausnahme zu machen, nicht einmal bei wertvollen Geigen, damit jeder nur ein Köfferchen dabei hat und kein Täschchen dazu? Warum genau tun Sie das?

Der Gepäckwächter öffnet den Mund. Aber bevor er wieder «Corona» brüllen kann, wird es

DUNKEL.