Die & Das: Ille Gebeshuber: „Verstehen ist wichtiger als Wissen“
Interview Saskia Blatakes Ille Gebeshuber: „Verstehen ist wichtiger als Wissen“ Die an der Wiener TU lehrende Nanophysikerin erklärt, warum sie trotz Endzeitstimmung auf die Menschheit vertraut – und was das mit dem Straßenverkehr in Malaysia zu tun hat. „Wiener Zeitung“: Frau Gebeshuber, wann haben Sie zuletzt über die Natur gestaunt? Ille Gebeshuber: Ich staune jeden Tag und ich wäre verloren ohne mein Staunen. Es gibt so viele Wunder um uns herum, die normalerweise vom Alltag verdeckt werden. Ich habe mir vorgenommen, mir jeden Tag aktiv und bewusst Zeit zu nehmen, aus den vorgegebenen Bahnen auszubrechen und etwas Neues zu betrachten. Das muss nichts Großes sein. Das kann ein Blatt sein, eine Kastanie oder eine Alge. Vor ein paar Monaten war ich am Neusiedler See und konnte den Flug eines Schwarmes von Staren beobachten. Das war faszinierend. Die Frage ist nicht, ob man staunt, sondern ob man sich die Zeit nimmt, zu staunen. Da sehe ich ein großes Problem: Viele Menschen können die schönen Dinge nicht mehr wahrnehmen. Ich mag den „Kleinen Prinzen“ sehr gern (von Antoine de Saint-Exupéry, Anm.). Der kommt zu einem Geschäftsmann, der die Sterne zählt und keine Zeit zum Träumen hat. Wenn wir uns alle mehr Zeit nehmen – und wenn es nur fünf Minuten sind – und uns zurücklehnen, an etwas anderes denken und uns teilweise von unseren Sachzwängen befreien, würde sich viel ändern. Was würde passieren? Wir wären viel begeisterter, am Leben zu sein. Es ist eine Gnade, ein Teil dieses Wunders zu sein. Als Physikerin und Nanotechnologin kenne ich ja nicht nur den sichtbaren Maßstab, sondern weiß, wie die Dinge im Mikroskop aussehen. Egal, ob man den eigenen Fingerabdruck oder einen Schmetterlingsflügel betrachtet – jedes Mal eröffnen sich neue Universen, die unendlich schön sind. Aus den gewohnten Bahnen ausbrechen – dazu wurden wir alle im vergangenen Jahr gezwungen. Was können wir daraus lernen? Wir Menschen haben unsere Unschuld im Umgang mit der Natur verloren. Vielleicht werden wir als Zivilisation auch einfach erwachsen – mit allen guten und schlechten Seiten des Erwachsenwerdens. Wir haben kollektiv über unsere Verhältnisse gelebt. Das gibt es in der Natur ja öfter. Meistens blühen diese Gemeinschaften kurzzeitig auf und sterben dann aus. Das wollen wir natürlich nicht. Was läuft schief? Wir haben ein riesengroßes, komplexes System aufgebaut – wenn man sich zum Beispiel die globalen Lieferketten ansieht. Alles hängt davon ab, dass Rohstoffe und Komponenten rechtzeitig geliefert werden. Jetzt merken wir, dass Naturkatastrophen, Pandemien oder Verteilungskriege das Potential haben, Ausfälle zu erzeugen. Das Drama ist, dass diese Ausfälle zu Kettenreaktionen führen und so eine weltweite Versorgungskatastrophe auslösen können. Manche sehen nur die vollen Supermarktregale und fühlen sich sicher. Aber dieser Bestand reicht nur für wenige Tage. Was muss passieren? Wir müssen aufwachen und im Einklang mit der Natur leben. Wir brauchen Systeme, die möglichst unabhängig von globalen Krisen funktionieren. Natürlich ist es schön, dass man sich Sachen aus China bestellen kann, die zwei Tage später geliefert werden. Aber das sind fragile Systeme, die leicht aus den Bahnen gebracht werden können. Die Katastrophe ist immer ums Eck. Ich glaube, wir realisieren inzwischen alle, dass wir so, wie wir es bisher gemacht haben, nicht weiterkommen. Daher habe ich als Optimistin Vertrauen in die Menschheit. Wir haben uns schon ein paar Mal neu erfunden, zum Beispiel während der Renaissance oder der Industriellen Revolution. Nehmen wir einmal die Acantharia, das sind Strahlentierchen, die im Meer leben und ein Skelett besitzen, das dummerweise aus einem wasserlöslichen Material besteht. Diese Wesen können sich nicht entschließen, sich ein an ihre Umwelt besser angepasstes Skelett zu bauen. Sie sind in dem Weg gefangen, den sie einmal evolutionär eingeschlagen haben, und kommen nicht mehr heraus. Wir Menschen können dagegen innehalten, reflektieren und erkennen, dass wir uns verrannt haben. Und wir können einen neuen Weg einschlagen. Und woher kommt der Impetus? Aus der Politik oder aus der Zivilgesellschaft? Der Spätkapitalismus steuert seinem Ende zu. Das langfristige Denken und das Verständnis für Abhängigkeiten wird zunehmen und die Menschen werden es auch mehr fordern. Ich glaube, dass dieses Virus die Bereitschaft erhöht hat, aktiv zu werden und globale Initiativen zu starten, weil es alle Staaten betrifft. Und ich glaube, dass sich kurzfristige, populistische Politik, die nur bis zur nächsten Wahl denkt, von ganz alleine ad absurdum führt. Oder wenn aktiennotierte Unternehmen nur bis zum nächsten Aktionärsbericht planen. Ich war jüngst auf einer UN-Jugendkonferenz im indischen Bangalore – und die neue Generation hat viele neue und kluge Forderungen. Die heutige Jugend wächst in einer ganz anderen Welt auf als die Generation vor ihr, die alles für selbstverständlich gehalten hat. Sie schreiben, die heutige Flut an Wissen sei genauso schlecht wie blinder Glaube. Was meinen Sie damit? Wissen ist heute leider nur eine andere Art von Glauben. Wir haben Terabyte an Daten, die generiert, gespeichert und verteilt werden. Diese riesigen Informationsmengen werden immer unübersichtlicher, weil wir nicht gelernt haben, mit ihnen umzugehen. Es wird zwar ausgesiebt, aber das ist nicht immer neutral. Viele kapitulieren und bauen sich mit Hilfe von Fake News eine Scheinwelt auf. Wir haben einen neuen Aberglauben und leben eigentlich in einem zweiten Mittelalter. Uns fehlt eine gemeinsame, gesicherte Wissensbasis. Früher war die Wissenschaft eine ordnende Kraft. Heute leben die meisten Forschenden in einer Innovationsindustrie, in der es nicht mehr da-rum geht, die Dinge zu verstehen. Sondern darum, ständig neue Produkte in den Händen zu halten, die möglichst viel können. Und was machen wir damit – zum Beispiel mit unserem Smartphone, das immer schneller und besser rechnen kann? Wir vergeuden unsere so wertvolle Lebenszeit, indem wir in sozialen Medien surfen oder Online-Spiele spielen. Was muss passieren? Mein Traum ist ein Baum des Wissens. Ich liebe die alten Nachschlagewerke und sammle alte Brockhaus-Bände. Wir müssen ein Mindestwissen festlegen und dafür sorgen, dass die Menschen das verstehen. Wir müssen sie dazu ausbilden, aus diesem alten Wissen neues Wissen abzuleiten und vor allem auch zu verifizieren. Auch bei digitalen Enzyklopädien wie Wikipedia sollten wir einen Kern definieren – den die Menschen gemäß ihren Interessen anpassen können. Wir brauchen eine „Next Generation“-Wikipedia, die besser strukturiert