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Dies & Das: Der Klimawandel lässt den Permafrost schwinden. Das krempelt die Landschaft um – nicht nur in den Alpen

anfang: Sven Titz 05.06.2021 Der Klimawandel lässt den Permafrost schwinden. Das krempelt die Landschaft um – nicht nur in den Alpen Der Spitze Stein, eine Felsnase oberhalb von Kandersteg im Kanton Bern, droht zu zerbrechen. 20 Millionen Kubikmeter Gestein seien in dem Gebiet in Bewegung, sagt Nils Hählen, der Leiter der Abteilung Naturgefahren im Kanton Bern. Kleinere Rutschungen seien am Spitzen Stein ebenso möglich wie Felsstürze und grosse Bergstürze. Einer der Faktoren, die als Ursache infrage kommen, ist der schwindende Permafrost. Oberhalb von 2600 Metern Höhe sind die Klüfte des Gesteins noch mit Eis gefüllt. Sobald es geschmolzen ist, kann Wasser eindringen, eventuell eine Schwächezone erreichen – zum Beispiel eine schräge Grenzfläche zwischen zwei Gesteinsschichten – und so das Gestein ins Rutschen bringen. Bohrungen in steilem Gelände Wie gravierend, wie verbreitet ist dieses Problem? Antworten können Forscher geben, die seit vielen Jahren verfolgen, wie der Permafrost im Hochgebirge auftaut. Seit 2000 werden die Veränderungen in den Schweizer Alpen vom Permafrost-Überwachungs-Netzwerk «Permos» beobachtet. Eine wichtige Messstation wurde aber schon 1988 unterhalb des Piz Corvatsch im Engadin eingerichtet. In zwanzig Metern Tiefe ist die Temperatur dort um mehr als ein halbes Grad Celsius gestiegen. In zehn Metern Tiefe kletterte die Temperatur sogar doppelt so rasch: von minus zwei auf minus ein Grad. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis null Grad erreicht wird. Die Messreihe vom Corvatsch sei weltweit die längste im Hochgebirge, sagt Marcia Phillips vom Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos, das ein Drittel der Permos-Bohrloch-Messungen betreut. An vielen anderen Orten begannen die Messungen zehn bis zwanzig Jahre später – sie haben den Erwärmungstrend bestätigt. In den gesamten Schweizer Alpen verfügt das Permos-Netzwerk derzeit über nur 15 Standorte mit 30 Bohrlöchern. «Wir brauchen mehr Bohrungen im Fels», sagt Phillips mit Nachdruck. Fachleute rechnen damit, dass im Zuge des Klimawandels ein Teil der Hochalpen destabilisiert werden könnte. Je weiter die Erwärmung ins Gestein vordringt, desto öfters bröckelt der Fels. In Zukunft ist deshalb häufiger mit Muren zu rechnen. Die heissen Sommer der letzten Jahre haben bereits einen Vorgeschmack gegeben. Eine Frage des Eisgehalts In welchen Gebieten der Schweizer Alpen Permafrost auftritt, haben die SLF-Mitarbeiter in einer Karte festgehalten. Wenig überraschend sind viele felsige Areale rings um die höchsten Gipfel ständig gefroren. Diesen «trockenen Permafrost» findet man regelmässig an Nordhängen oberhalb von 2400 Metern Höhe. Weil das Gestein nur wenig Eis enthält, taut er bei Erwärmung schnell auf. In die Spalten dringt Wasser ein. Der Wasserdruck vergrössert die Spalten – auf diese Weise beschleunigt sich die Erosion selbst. Näher an der Zivilisation ist eine andere Form von Permafrost: «Blockgletscher» sind in tieferen Lagen als die trockene Variante anzutreffen – oft am Fuss von Hängen, wo sich Ablagerungen von Lawinen und Felsstürzen sammeln. Blockgletscher sind gar keine Gletscher im eigentlichen Sinne, sondern mit Eis durchmischte Schutthalden. Sie tauen wesentlich langsamer auf als der trockene Permafrost, denn beim Schmelzen von Eis werden sehr grosse Mengen an Energie verbraucht. Blockgletscher haben eben einen viel höheren Eisgehalt. Mit dem Auftauen steigt ihre Kriechgeschwindigkeit. In der Folge nimmt das Risiko von Muren zu. Mancherorts ist auch die Stabilität von Bergbahnanlagen bedroht. Wenn die Tundra auftaut Der Permafrost schwindet nicht nur in den Alpen. Auch in den unendlichen flachen Landschaften des hohen Nordens setzt ihm der Klimawandel zu. Noch besitzt ein Viertel der Landoberfläche auf der Nordhalbkugel – das sind 14 bis 16 Millionen Quadratkilometer – einen permanent gefrorenen Boden. Diese Fläche ist eineinhalb Mal so gross wie die von Europa. Die grössten Permafrostregionen liegen in Russland und Kanada Doch die gefrorenen Böden tauen in der Tundra immer häufiger auf. Forscher können das anhand von Temperaturmessungen gut dokumentieren: Der Permafrost in den Weiten von Alaska, Kanada und Sibirien werde seit ungefähr 70 Jahren mithilfe von Bohrlöchern überwacht, berichtet Vladimir Romanovsky von der University of Alaska Fairbanks. Lange Zeit waren wissenschaftliche Projekte zum Permafrost in der Tundra schlecht vernetzt. Doch mit dem vierten «Internationalen Polarjahr» 2007/2008 änderte sich das: Experten aus aller Welt koordinierten ihre Messungen besser, und es gab neue Finanzierungsquellen. Dauerhaft gesichert sei die öffentliche Unterstützung für den Unterhalt der Bohrlöcher aber häufig auch heute noch nicht, sagt Romanovsky. Einblick in die Klimageschichte Die meisten Bohrungen sind nur wenige Meter tief. Einige wenige reichen aber 100 Meter und mehr hinab. Das Tiefenprofil der Messdaten aus solchen Löchern enthüllt die Klimageschichte der Region. Temperaturveränderungen an der Oberfläche – ganz gleich, ob Abkühlung oder Erwärmung – dringen im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte immer tiefer in den Boden ein. Die niedrigsten Temperaturen werden heute oft in mittleren Schichten gemessen, in zig Metern Tiefe. Dort ist die Kälte «gespeichert», die in früheren Jahrhunderten an der Oberfläche herrschte. Noch weiter unten macht sich dann die Wärme bemerkbar, die kontinuierlich aus dem Erdinneren aufsteigt. In der arktischen Tundra sind die durchschnittlichen Lufttemperaturen in den letzten hundert Jahren um zwei bis drei Grad Celsius gestiegen. Die Erwärmung dringt in die Böden ein, und das hat heute schon weitreichende Folgen. Das Tauen des Permafrosts formt die Landschaft grundlegend um. «Thermokarst» nennen das die Forscher: Es entstehen neue Tümpel und Seen, die den Prozess des Auftauens beschleunigen. Schäden an der Infrastruktur «In der Arktis leben fünf Millionen Menschen auf Permafrost-Böden», sagt Romanovsky. Für sie bedeutet das grosse Tauen einen fundamentalen Wandel ihrer Umwelt. Ob Wohnhäuser, die schief stehen, Strassen, die Risse bekommen, Schienen, die sich verformen oder Flughäfen und Industrieanlagen, die unbrauchbar werden: Vielerorts richten Bodenabsenkungen erhebliche Schäden an. Teilweise wird durch das Auftauen des Permafrosts das Wasser von Flüssen, aus denen Dörfer ihr Süsswasser beziehen, mit Schwermetallen verschmutzt. So gerät dort auch die Wasserversorgung in Gefahr. Manchmal entleerten sich durch die vom Tauen ausgelöste Erosion ganze Seen, erzählt Romanovsky. Die Gefahr von Rückkopplungen Klimaforscher befürchten, dass es im Anschluss an das Auftauen des Permafrosts zu einer Selbstverstärkung kommt – einer «positiven Rückkopplung»: Wo die Trockenheit zunimmt, könnten Waldbrände die Erwärmung der Böden noch beschleunigen. Aus den mit Schmelzwasser gefüllten Tümpeln könnten vermehrt die Treibhausgase CO2 und Methan entweichen. Solche Prozesse würden die globale Erwärmung zusätzlich anfachen. Doch neuere Studien zeichnen ein

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