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Dies & Das: Katapult

anfang Barbara Höfler 06.03.2021 Der Print lebt! Ein Magazin aus der deutschen Provinz bricht alle Regeln der Branche Er hatte kein Geld und keine journalistische Erfahrung. Jetzt macht er ein supererfolgreiches Magazin. Und es hat nicht mal Bilder. «Benni, das kannst du jetzt aber nicht jeden Tag machen!», versuchen Redaktorin und Layouter die Lage zu deeskalieren. Aber Benjamin Fredrich steht dazu, einem Limousinenfahrer den Seitenspiegel weggetreten zu haben, weil der hupte, als er mit seinem klapprigen Damenrad vor ihm mitten auf der Strasse fuhr. Fredrichs radikales mission statement: «Was sollen die Leute denken. Dass wir uns nicht wehren? Ich habe keinen Bock mehr auf die Penner. Wenn die auch noch dumm sind, müssen die damit rechnen, dass ich ihnen das Auto zusammentrete!» Benjamin Fredrich ist 33 Jahre alt, Politikdoktorand aus Greifswald, Mecklenburg-Vorpommern, und der wahrscheinlich erfolgreichste Print-Verleger dieser Tage. Eskalation ist sein Prinzip, beruflich und privat. 2015 gründete er «Katapult», ein – laut Untertitel – «Magazin für Kartografie und Sozialwissenschaft». Vierteljährlich erscheinend, auf hundert gedruckten Seiten kein einziges Foto, nur Statistiken, Diagramme, Schaukarten und Text. Der Anspruch ist, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse einem breiten Publikum verständlich zu machen. Mit so einem klapprigen Damenrad von Konzept wäre Fredrich bei jedem Verlag rausgeflogen. Mittlerweile kommen die Verlage zu ihm, weil sie wissen wollen, was er richtig macht. Auf einem Markt, auf dem die Auflagen der meisten Zeitungen und Zeitschriften – mit Ausnahme von TV-Programmen und Landmagazinen – seit Jahren fallen, steigen diese bei «Katapult» kometenhaft. Jedes Jahr verdoppelt das Heft die Auflage. Zwischen 2019 und 2020 erst auf 25 654 Abonnements und Einzelkäufe zum Stückpreis von 9 Franken 90. Von Beginn der Pandemie bis Jahresende stieg sie auf 55 000, bis zum Interview mit der «NZZ am Sonntag» im Februar dann auf 75 000. Gedruckt werden 120 000, denn im­mer wieder wollen Fans alte Ausgaben nachkaufen. Über eine halbe Million Follower zählt «Katapult» mittlerweile auf Facebook, Instagram und Twitter. Medienjournalisten nennen «Katapult» «das gedruckte Wunder von Greifswald», den «vielleicht signi­fikantesten Erfolg der Printbranche» und Fredrich den «Fynn Kliemann der Printbranche». Kliemann ist ein junger Typ, der auf Youtube mit Musik- und Laberkanälen 1,3 Millionen Follower macht. Fredrich ist ein junger Typ, der aus dem ostdeutschen Out­back ohne jede journalistische Erfahrung ein Printmagazin macht, das «wachstumsstärkste Magazin Deutschlands», sagt er. Wenn Verlage nach Strategieberatung fragen, lehnt Fredrich aus Prinzip ab. «Die haben tausend Mitar­beiter, und wir sind nur sechzehn», kommentierte er 2019 in einem NDR-Interview. «Warum fragen die uns, wie das geht? Das müssten die doch wissen!» Wissen «die» es? Fredrich jedenfalls hat seit damals zwanzig neue Mitarbeiter eingestellt und verfügt da­mit ziemlich sicher auch noch über die wachstumsstärkste Redaktion Deutschlands. Sein Know-how gibt er für 27 Franken 90 weiter – als Buch: «Die Redaktion» erschien im Herbst. Fredrich erzählt darin die Unternehmensgeschichte des Magazins in Romanform. Auch die Episode mit dem Mer­cedesfahrer stammt daraus. Nichts sei erfunden, beteuert er. Wenn das stimmt, tritt Fredrich nicht nur einem Autofahrer den Seitenspiegel ab, sondern dem gesamten deutschsprachigen Medienbetrieb. Weil er einfach alles anders macht als die. Die Idee zu «Katapult» kam dem Ex-Leistungssportler während des Politikstudiums. Damals sah Fredrich zu, wie Kommilitonen sich abrackerten, um einmal einen Artikel in einer Zeitung oder gar dem damals aufstrebenden, heute von «Katapult» überhol­ten Politikmagazin «Cicero» zu publizieren. Eitle Redak­toren lehnten beflissen ab. Selbst hochinteressante Studienergebnisse, wie die eines Dozenten, der herausgefunden hatte, warum manche Diktatoren sich länger an der Macht halten als andere, landeten bestenfalls im Orkus universitärer Fachzeitschriften. «Wie geht das denn?», fragte sich Fredrich. «Der Typ findet die heissesten Zusammenhänge heraus und will sie dann in einem Science-Journal veröffentlichen? So was muss richtig gross, also so richtig gross veröffentlicht werden. In der ‹FAZ›, in der ‹Zeit›, in der ‹Süddeutschen› oder eben im ‹Katapult›-Magazin.» Der Name stand lange vor dem Magazin, das Fredrich gründen wollte, «weil die andern alle Müll sind, also viele». Eine typische Studentenkneipenidee, die übers Reden normalerweise nicht hinauskommt. Für Fredrich jedoch wurde Ernst daraus, als er begann, gegen seine bis heute nicht abgeschlossene Doktorarbeit zur «Theorie der radikalen Demokratie» anzuprokrastinieren. Bei der Schilderung des steinigen Weges hin zur Redaktion lässt er nichts aus. Als Einzelner ein Magazin zu gründen, scheint genau so zu sein, wie man es sich vorstellt: Immer wieder tauchen Mitstu­denten auf, Feuer und Flamme für das Projekt, die dann aber plötzlich doch «nicht können». Ein Programmierer aus dem Schwimmverein erklärte sich bereit, gratis eine Website für das erst als Online-Magazin geplante «Katapult» zu bauen, brauchte dann aber doch monatelang, um Fredrichs ersten Entwurf, eine mit dem Windows-Programm «Paint» aufgepimpte Version der «Zeit»-Startseite, hinzubekommen. Mit minus 35 Franken auf dem Konto verwarf Fredrich von vornherein die goldene Journalisten-­Regel, wonach der Leser vor allem viele Fotos will. Auch mit höherem Budget hätten soziologische Erkenntnisse sich schlecht fotografieren lassen. So entstand die Idee, ein ganzes Heft nur mit Diagrammen und Karten zu gestalten. Mit kostenlosen. Der Entschluss: «Ich bringe mir alles selbst bei und werde Il­lustrator!» Sechsmal löschte Fredrich offenbar das Betriebssystem von seinem Rechner, um immer wie­der den Gratis-Probemonat des Grafikprogramms «Adobe Illustrator» nutzen zu können. Gescheitert wäre «Katapult» fast an Gründungs­beratern. Eine Branche, die sich seit den 1990ern in­stitutionalisiert und neue Ideen jetzt mit Schema-F-Lösungen zur Bewilligung von Fördermitteln meist verhindert. So rieten die Gründercoaches Fredrich zu einem Businessplan für ein «innovatives Digitalkonzept» mit «Unique Selling Point». Er sollte nach Berlin ziehen zu den anderen Startups, raus aus 60 000-Seelen-Greifswald. Bei Investoren sollte er mit Lesermeinungen und Empfehlungsschreiben pitchen. Vor allem aber: auf gar keinen Fall drucken! Print sei tot. «Jedes Mal, wenn die so was sagen, denke ich ganz laut, ‹Katapult› wird später gedruckt, ‹Katapult› wird in Greifswald bleiben und ausschliesslich negative Lesermeinungen veröffentlichen», schreibt Fredrich. «Wenn ich das Gegenteil von dem mache, was die bei­den Schlaffis sagen, kann ich nur auf der richtigen Seite sein.» Und genau so hat er es gemacht. Im März 2015 ging «Katapult» online, mit sechs Artikeln nebst Karten, geschrieben fast und illustriert komplett von Fredrich allein. Andere Redaktionen, so der Businessplan, sollten die Grafiken im Onlineshop zu 380 Franken das Stück kaufen. Das Ding lief nicht. Fredrich und eine Handvoll

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