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Dies & Das: Ökonom Schulmeister: „Das Schlimmste kommt erst“

COVID-KRISE Thomas Seifert 25.02.2021 Ökonom Schulmeister: „Das Schlimmste kommt erst“ „Die Aktienkurse sind seit der Corona-Krise um 70 Prozent gestiegen. Ist das nicht verrückt?“, sagt Schulmeister im Interview. Der Ökonom Stephan Schulmeister geht mit seiner Zunft hart ins Gericht: Er fordert eine Abkehr vom Finanzmarktfetisch und eine engagierte, aktive Covid-19-Krisenbewältigung. Wiener Zeitung:Vor 100 Jahren endete die Spanische Grippe, eine Pandemie, die damals 20-50 Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Was kann man aus der Geschichte lernen? Stephan Schulmeister: Ich halte die Unterschiede zwischen heute und den 20er Jahren für größer als die Parallelen – besonders in Europa. Der Hauptgrund liegt darin, dass nach dem Ersten Weltkriegs in Europa Welten – und zwar in allen Dimensionen – zusammengebrochen sind. Auf den Trümmern des zerstörten Finanzkapitals – Stichwort Hyperinflation – hat sich eine Haltung entwickelt, dass es nicht mehr schlimmer werden kann. Die Arbeiterbewegung hat viele Menschen politisiert. Die Menschen haben sehr aktiv an den Debatten der damaligen Zeit teilgenommen, waren auf den Straßen und haben für ihre Rechte demonstriert. Heute habe ich den Eindruck, dass die Menschen eher das dumpfe Gefühl haben, das Schlimmste kommt erst – ohne dass sie konkret wissen, wie dieses Schlimmste aussehen könnte. Und sie haben – zu Recht – den Eindruck, dass nicht nur sie, sondern auch die politischen Eliten die Orientierung im Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung verloren haben. Dass diese Eliten gar nicht wissen, wohin die Reise geht und besonders, dass die Frage: „Wohin soll die Reise gehen?“ gar nicht mehr gestellt wird. Die 20er waren aber auch die Zeit gesellschaftlicher und politischer Experimente. Wären die Voraussetzungen dafür auch heute gegeben? Die Voraussetzung dafür ist gegeben, weil sich der Zweifel mit unglaublicher Stärke erhebt. Aber der Zweifel manifestiert sich vor allem in einer destruktiven Haltung gegenüber dem Bestehenden. Die Wochen im März – als der Welt die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie dämmerten – waren schon interessant. Was mich besonders frappiert hat, war die 180-Grad-Wende in der Rhetorik nahezu sämtlicher Macht- und Wirtschaftseliten innerhalb von zwei Wochen. 30 Jahre lang lautete das Mantra: Konkurrenzfähigkeit, Eigennutz, Eigenverantwortung, Sparpolitik – jetzt hieß es plötzlich: Zusammenstehen, Solidarität. Koste es, was es wolle. Selbst das Weltwirtschaftsforum – das Sprachrohr der transnationalen Konzerne – wird von WEF-Chef Klaus Schwab auf den großen Reset eingeschworen. Schwab sagt jetzt, dass man den Kapitalismus ganz neu denken muss. Das ist der Ausdruck des dumpfen Gefühls: „Wir können wirklich nicht mehr weitermachen wie bisher.“ Diesem Gefühl fehlt aber weitestgehend eine intellektuelle Analyse, was da in den letzten 50 Jahren eigentlich schiefgelaufen ist. Und diese Analyse fehlt unter anderem deswegen, weil man das Jahr 1989 nie wirklich verarbeitet hat. 1989 hat ja nicht dazu geführt, dass man sich stärker mit der Frage „wohin wollen wir gehen?“ beschäftigt hat. Im Gegenteil: 1989 brachte für den Neoliberalismus in der Praxis der Politik den Durchbruch. 1989 war die Konkurrenz der Systeme endgültig entschieden. Der liberale Kapitalismus hat obsiegt. Genau das meinte der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, als er vom „Ende der Geschichte“ sprach. Gleichzeitig begann die Neoliberalisierung der Sozialdemokratie. Somit gab es keine Alternative mehr zum Neoliberalismus. Und dieses Einknicken der Sozialdemokratie erwies sich als besonders verhängnisvoll, weil die Sozialdemokratie die Vertreterin für jene Werte hätte sein müssen, die Europa in fast 150 Jahren geschaffen hat – insbesondere in Gestalt des Sozialstaats, der ja eine europäische Erfindung ist. Aber was ist stattdessen geschehen? Genau dieser Sozialstaat wurde durch die Politik von Sozialdemokraten geschwächt. Es wurde die Krise 1989 nicht für einen weiteren Fortschritt genützt, sondern 1989 brachte für Westeuropa letztlich einen Rückschritt. Und dieses Zurückschlittern sollte dann 30 Jahre – bis heute! – andauern. Die Finanzkrise 2008 brachte auch keinen Nachdenkprozess in Gang, denn darauf wurde reagiert, als hätte man lediglich einen sanften Klaps auf den Hinterkopf bekommen. 2008 war das Geburtsjahr von Occupy Wall Street. Nährte die Lehman-Pleite samt nachfolgender Finanzkrise 2008 nicht Zweifel am System? Ich erinnere mich sehr gut, wie innerhalb dieser sechs Monate zwischen September 2008 – Lehman-Pleite – und März 2009 die Politik zur Meinung gelangte: „Wir können nicht weitermachen wie bisher.“ Damals sind reihenweise Artikel erschienen – selbst in der konservativen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit der Stoßrichtung: „Der Neoliberalismus ist am Ende!“ Aber genau diese Erfahrung von Damals ist mir heute ein Warnsignal, weil sie mir zeigt, dass eine Weltanschauung, die Jahrzehnte lang Zeit hatte, um sich in den Köpfen der Eliten einzunisten, dann nicht so einfach über Bord geworfen wird. Über 30 Jahre wurde an den Universitäten nur mehr eine Art von Wirtschaftswissenschaft gelehrt – die der Neoliberalen. Jene, die durch diese Schule gegangen sind, sitzen heute in der Europäischen Kommission und haben Regierungs- und Spitzenpositionen inne. Die tun sich nun sich schwer mit diesem Zweifel, der auch sie nun erfasst hat und dem Mangel an Analyse, was denn die konkreten Ursachen dafür sind, dass wir in Europa 25 Jahre lang Vollbeschäftigung hatten, die Staatsverschuldung gesunken ist und der Sozialstaat ausgebaut wurde und dann plötzlich, nach dem Drehen vom sozialdemokratischen Modell zum neoliberalen Modell die soziale Ungleichheit zugenommen hat, atypische Beschäftigungsverhältnisse im Vormarsch waren und die Staatsverschuldung gestiegen ist. Dazu kommt nun das Bewusstsein der nahenden Katastrophe – der Erderwärmung. Das ist das Wesen dieses Zwischenzustandes: Man erahnt, dass es in eine andere Richtung gehen muss. Sie malen ein düsteres Bild. Sehen Sie irgendwo… … Hoffnung? Ja. Der European Green Deal oder der Next-Generation-EU-Fund – das sind Zeichen der Hoffnung und des Umdenkens. Es gibt aber ein weiteres Problem: Man reagiert auf die Wirtschafts-Krise mit einer noch nie dagewesenen Geldspritzen-Politik. Doch so wie das derzeit gemacht wird, bringt das wenig. Es ist eine alte Weisheit, dass man in einer Krise das Geld dorthin stecken muss, wo die reale Nachfrage durch einen solchen Stimulus steigt. Was macht man stattdessen? Man steckt einem wohlsituierten Tiroler Hotelier unter dem Titel „Fixkostenzuschuss“ eine halbe Million Euro zu. Das ist zwar sicher gut für dessen Nerven, wird aber die Tiroler Wirtschaft null stützen, weil der gute Mann völlig zu Recht in der jetzigen Situation keine Investitionsprojekte angehen wird. Was hätte man Ihrer Meinung nach stattdessen tun sollen? Wenn man

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