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Dies & Das: „Mit viel Glück kriegen wir noch die Kurve“

Klimakrise 07.08.2022 „Mit viel Glück kriegen wir noch die Kurve“ Und wenn nicht, wird nichts mehr so sein, wie es einmal war: Klimapolitologe Reinhard Steurer über die Chancen und Risiken der Klimakrise. Wiener Journal: Eines der dominierenden Themen des diesjährigen Alpbach Forums ist „Climate Opportunity“. Kann man noch von einer Gelegenheit sprechen oder ist es dafür zu spät? Reinhard Steurer: Man darf nie aufhören, von einer Gelegenheit zu sprechen, um Mut zu machen. Tatsächlich sind die hohen Gaspreise eine gute Gelegenheit, schneller aus Fossilenergie aus- und auf erneuerbare Energien umzusteigen. Wir sind allerdings einmal mehr dabei, diese Gelegenheit verstreichen zu lassen, denn aktuell ist die größte Sorge, die fossile Energieversorgung für den Winter zu sichern. Glauben Sie, dass das ein Österreich- oder EU-Problem ist? Es ist quer durch Europa ein Problem, allerdings ist der Fokus auf Energiesparen vor allem in Österreich besonders spät und schwach ausgefallen. Wir haben dadurch sicher wertvolle Zeit für angemessene Lösungen verloren. Wie kann man die Gas- und die Klimakrise gemeinsam in Angriff nehmen? Die hohen Preise für Fossilenergie sind die ideale Gelegenheit, aus Fossilenergie schneller als geplant auszusteigen. Zudem gilt: Wenn wir diesen Ausstieg jetzt nicht forcieren, dann wird es in ein paar Jahren nicht mehr darum gehen, die Klimakatastrophe zu verhindern, sondern nur noch darum, sie zu verzögern. Wir stehen kurz vor diesem historischen Moment, wenn er nicht schon passiert ist. Mit viel Glück haben wir noch ein paar Jahre, um die Kurve zu kriegen. Viel spricht dafür, dass es bereits sehr knapp ist – die hohe Methankonzentration in der Atmosphäre, Waldbrände, die viele zusätzliche Emissionen verursachen, und die extreme Eisschmelze an den Polen. Wenn die nächsten Jahre entscheidend sind, wieso hat man das jahrzehntelang verschlafen? Die Klimakrise entwickelt sich so langsam und zeitverzögert, dass es leicht war, sie zu verdrängen und zu verharmlosen. Jetzt ist ein Punkt erreicht, an dem das nicht mehr ohne gravierende Folgen geht. Das Szenario, auf das wir derzeit zusteuern, ist eindeutig: Bei einem „weiter so“ wird unsere Zivilisation, wie wir sie kennen, im Chaos versinken. Zum Beispiel, weil die Nahrungsmittelversorgung und globale Lieferketten zusammenbrechen werden. Die Wissenschaft warnte genau davor seit Jahrzehnten, aber weite Teile der Gesellschaft wollen es immer noch nicht hören. Die derzeitige Lage ist tatsächlich sehr ernst. Die EU gilt als Vorreiter im Klimaschutz, aber kann sie etwas auf globaler Ebene ausrichten, wenn andere Industriestaaten nicht nachziehen? Ganz sicher. Es können sogar Nationalstaaten etwas ausrichten, wenn sie ernsthaft eine Lösung verfolgen. Dafür gibt es schöne Beispiele. Deutschland hat ein paar Jahre die Energiewende mit Nachdruck betrieben. Das war maßgeblich für den Durchbruch der Solartechnik. Die Preise sind seitdem stark gesunken. Dasselbe sieht man bei Autos. Die Politik in Norwegen war für den Durchbruch von E-Autos weltweit entscheidend. Heute werden dort so viele emissionsfreie Pkw zugelassen wie sonst nirgends auf der Welt, und andere ziehen nach. Somit können sogar einzelne Länder wichtigen Lösungen zum Durchbruch verhelfen. Wenn das EU-weit passiert, gilt das noch viel mehr. Die EU kann die Klimakrise aber dennoch nicht allein lösen. Aber technische Entwicklungen können von Wirtschaftsräumen wie der EU angetrieben werden. Solarenergie ist heute beispielsweise die billigste Form der Stromerzeugung, viel billiger als Kohle- oder Gasverstromung. Das hat weltweit Bedeutung. Zusätzlich sollte die EU Importe aus Ländern ohne CO2-Preis mit einem Zoll versehen. Das ist für 2026 vorgesehen, kommt aber wie fast jede dringend nötige Maßnahme um Jahre zu spät. Jedenfalls wäre ein CO2-Zoll für Länder wie China ein Anreiz, selbst einen CO2-Preis einzuführen und somit Emissionen zu senken. Ist es nicht scheinheilig zu behaupten, die EU sei ein Klimaschutz-Vorreiter? Ein Teil der Verschmutzung findet nicht mehr in der EU statt, sondern sie wird in Länder wie China ausgelagert. Durch Importe und Konsum verursachen wir tatsächlich mehr Emissionen, als offizielle Statistiken aufzeigen. Das noch größere Problem ist jedoch, dass nationale Emissionen auch in der EU zu langsam reduziert werden, besonders in Österreich. Bei uns sind CO2-Emissionen seit 1990 unverändert hoch geblieben. Das ist eine klimapolitische Bilanz des Scheiterns, die zum Schämen ist. Hat die Klimakrise neokoloniale Züge? Die Menschen im globalen Süden zahlen den Preis dafür, dass Industrieländer wie Österreich die Erde seit Jahrzehnten heruntergewirtschaftet haben. Diejenigen, die am wenigsten zu dem Problem beigetragen haben, werden in der Tat am stärksten darunter leiden, vor allem afrikanische Länder. Um das etwas auszugleichen, wäre finanzielle Unterstützung durch den reichen Norden dringend nötig, für Emissionsminderungen und Anpassung. Im Paris-Abkommen sind 100 Milliarden Dollar an „Klimafinanzierung“ jährlich versprochen worden. Das Geld fließt bis heute nicht. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Ankündigungen und Umsetzungen in der Klimapolitik traditionell weit auseinandergehen. Was könnte man unternehmen, um die Menschen auf die Dringlichkeit der Klimakrise aufmerksam zu machen? Am wichtigsten wäre mediale Berichterstattung. Wir bräuchten aufrüttelnde Botschaften und Berichte aus den „Intensivstationen der Klimakrise“, so ähnlich wie während der Pandemie-Wellen. Die Klimakrise ist zwar ähnlich akut, aber man nimmt es noch nicht so drastisch wahr. Die Verantwortung liegt bei allen, aber die der Medien ist besonders groß, weil sie darüber entscheiden, wie wir das Problem und nötige Lösungen wahrnehmen. Bisher ist die mediale Berichterstattung oft verharmlosend. Einem Großteil der Bevölkerung ist nicht klar, dass unsere Zivilisation schon in den nächsten Jahrzehnten im Chaos versinken könnte. Die mediale Berichterstattung der Pandemie hat zu einer Abstumpfung bei den Menschen geführt. Könnte es beim Klima ähnlich sein? Der größte Fehler in der Corona-Krise war, dass zunächst übertrieben und dann wieder oft verharmlost worden ist. Das hat nachvollziehbaren Ärger und Frust produziert. Deshalb ist es in der Klimakrise wichtig, realitätsnah und faktenorientiert zu kommunizieren. Die Fakten sind brutal genug. Da braucht man nicht mehr übertreiben, nur berichten was ist – und voraussichtlich sein wird. Abgesehen von der Gesellschaft, was könnte die Politik tun? Am wichtigsten wäre, dass die Politik aufhört, Märchen zu erzählen. Zum Beispiel, dass Österreich mit der derzeitigen Politik bis 2040 klimaneutral sein kann oder dass bis 2030 der gesamte Strom aus erneuerbaren Quellen stammen wird. Beim derzeitigen Reform-Tempo ist beides mit Sicherheit unmöglich und das sollte auch offen gesagt werden. Und wenn Politiker das nicht sagen, dann sollten

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