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Die vielen Rollen der Angehörigen bei der Pflege

Petra Ganglbauer Kommentar der anderen 6. November 2023 Die vielen Rollen der Angehörigen bei der Pflege Meine Mutter muss gut gepflegt werden. So lebe ich ein zweites Leben mit, bin Organisatorin, Kommunikatorin, Integrationsfigur oder Coachin. Alltagserfahrungen mit der 24-Stunden-Betreuung, die deren Schwachstellen aufzeigen… In ihrem Gastkommentar schreibt Autorin, Radiokünstlerin und Schreibpädagogin Petra Ganglbauer über die Herausforderungen, mit denen Angehörige von pflegebedürftigen Menschen häufig konfrontiert sind. Es ist etwa drei Uhr dreißig an einem Sommermorgen im Juli des Jahres 2021. Mein Herz pocht. Pflegerin C. sollte seit fast vier Stunden da sein. Meine Mutter, die tapfer und wehrhaft wie viele ältere Menschen bis zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger alleine zurechtkam, ist durch einen Sturz und aufgrund fortschreitender Demenz geschwächt und daher nicht mehr imstande, sich selbst zu versorgen. Liebevolle Pflege, rund um die Uhr, das wünscht man pflegebedürftigen Menschen. Nicht nur Angehörige stellt das vor Herausforderungen. Getty Images Heute, mehr als zwei Jahre später – nach etwa zwölf Betreuerinnen (O-Ton, Management: „Wir haben eh genug!“) und einem Managementwechsel, hoffe ich, nun endlich eine stabile Situation erreicht zu haben. Meiner Internistin sage ich: „Ich lebe ein zweites Leben mit.“ Sie antwortet: „Sie werden gelebt!“ Sie und ihr Mann hatten ähnliche Erfahrungen gemacht. Die Tankstellenfrau spricht mich darauf an, die Wirtin. Wir erleben Vergleichbares. Wie oft musste ich „von vorne“ anfangen und die Bedingungen der Lebenssituation, die Eigenheiten und Vorlieben meiner Mutter erklären, Beziehungen und Vertrauen aufbauen und wieder sein lassen! Ein Graubereich Es ist seit Jahren evident, dass vor allem pflegende Angehörige, zu denen ich mich aufgrund der örtlichen Distanz – ich lebe in einem anderen Bundesland als meine Mutter –nicht zählen kann, unter enormem Druck stehen. Darüber hinaus ist die Frage zu stellen, inwieweit die zu einem Großteil aus Osteuropa kommenden Betreuerinnen (meist sind es Frauen) auf ihre Aufgabe ausreichend vorbereitet werden. Da sie ohne diplomierte Ausbildung keine nicht auf die Grundpflege reduzierten pflegerischen Tätigkeiten ausführen dürften, findet sich das Pflegesystem in einem Graubereich. Dass die 24-Stunden-Pflege, so sie professionell und sorgfältig durchgeführt wird, eine große Belastung für die Betreuerinnen darstellt, ist unbestritten. Riskante Pflege Der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil brachte in diesem Zusammenhang vor einiger Zeit den Vorschlag, den aus dem Ausland kommenden Pflegekräften vor Beginn ihrer Arbeit in Österreich hier eine Ausbildung zukommen zu lassen. Meine Mutter klagt seit Wochen über Schmerzen an der Ferse; dass ein Dekubitus innerhalb weniger Stunden entstehen kann, ist klar; bleibt er unentdeckt, wird das Gewebe nekrotisch und stirbt ab. Pflegerin C. macht mich, nachdem Pflegerin B. nicht mehr kommt, schließlich darauf aufmerksam, dass meine Mutter eine „Blase“ am Fuß hätte. Als ich der diplomierten Pflegemanagerin ein Foto von den deutlich dunklen Verfärbungen an der Ferse schicke, meint diese nur: „Das ist nicht so schlimm.“ Ich weiß jedoch, dass ein Dekubitus, der so lange unentdeckt bleibt, unter „Gefährliche Pflege“ einzuordnen ist. Pflegerin C. ist äußerst liebevoll, sanft und gründlich. Ich freue mich jedes Mal, sie zu sehen. Ihre Deutschkenntnisse sind nicht überragend, aber sie gleicht dieses Defizit durch Gesten und Zuwendungen aus. Sie hat jedoch noch nie von einem Dekubitus gehört. Pflegerische Detailfragen Hätten wir keinen uns so unterstützenden Hausarzt, wäre ich bis heute in vielen ähnlichen Situationen ganz auf mich gestellt. Die Kommunikation zwischen Pflegerinnen und Management funktioniert meistens nicht, weil die Betreuerinnen sich, selbst bei pflegerischen Detailfragen, lieber an die Angehörigen als an die für sie zuständige diplomierte Krankenschwester wenden. Ich sehe mich daher seit zwei Jahren als Organisatorin, Kommunikatorin, Integrationsfigur, Coachin. Phasenweise gibt es täglich ein Problem, das ich lösen soll. Pflegerin L. hat den Auftrag, einen Positionswechsel bei meiner Mutter in der Nacht durchzuführen. Sie weigert sich nicht nur, weil diese Tätigkeit angeblich nicht in ihrem Vertrag steht, was nicht stimmt, sondern erklärt mir sowie der sie betreuenden diplomierten Krankenschwester, sie wäre nicht imstande dazu, weil sie sonst nicht durchschlafen könne. Als sie endlich einsieht, dass dies zu ihrem Aufgabenbereich gehört, muss ich sie dreißig Minuten lang per Video unter Beistand einer mir nahen pflegekundigen Person coachen, bis sie die Seitenlage zustande bringt. Pflegerin D. bespricht mit mir allabendlich telefonisch die Verdauung meiner Mutter; Pflegerin L. meint, es gehöre nicht zu ihrer Aufgabe, Tabletten in der Apotheke zu besorgen; Pflegerin B. schreit auf meine Mutter ein (O-Ton: „Sie muss essen!“) und stopft ihr das Essen so rasch in den Mund, dass diese nicht mehr nachkommt. Ich kündige sie sofort! Schöne Augenblicke Es gibt aber auch die schönen Augenblicke, das Vertrauen und das Familiäre. Pflegerin H. macht Ableger von der Yuccapalme, und Pflegerin E. schmückt den Garten mit selbstbemalten Ostereiern. Pflegerin C. bekocht uns mit Spezialitäten aus ihrem Land. Meine wichtigste Erfahrung ist jedoch, dass ich lerne, nicht die Verantwortung für jene zu übernehmen, die für den Pflegebereich zuständig sind. Und ich erkenne, wie wichtig ein verantwortungsvolleres und funktionierenderes Zusammenwirken von Betreuerinnen, Management und Politik wäre. (Petra Ganglbauer, 6.11.2023) Petra Ganglbauer ist Autorin, Radiokünstlerin und Schreibpädagogin. Zuletzt erschienen: „Lauergrenze, Mensch!“ (Limbus-Verlag, 2023). Zum Thema: Ein paar Pfleger einfliegen? Das ist in der Praxis äußerst schwierig Österreich fehlen Arbeitskräfte – jetzt sollen es Philippiner richten Hohe Kosten, maue Leistung: Woran der Wohlfahrtsstaat krankt Das löchrige System der Altenpflege Die Pflegekrise stempelt Frauen zu ewigen Haushälterinnen ab Förderung für 24-Stunden-Betreuung steigt um ein Viertel Zivildiener können künftig Grundkurs „Pflege“ absolvieren Blog: Wie Brücken zu Menschen mit Demenz gebaut werden können

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