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Dies & Das: Jonathan Franzen: «Europa ist ein schrecklicher Kontinent, ökologisch gesehen»

Ein Klick führt Sie zur NZZ… Sacha Batthyany und Carole Koch                         16.02.2022 Gedanken von Jonathan Franzen Weiterführendes zum Thema… Jonathan Franzen: «Europa ist ein schrecklicher Kontinent, ökologisch gesehen» US-Autor Jonathan Franzen kämpft für das Klima Der Schriftsteller Jonathan Franzen hält den einseitigen Kampf gegen die Klimaerwärmung für dämlich. Weil es nichts mehr bringe. Besser, man rette, was zu retten ist. Herr Franzen, die Welt kennt Sie als Bestsellerautor. Was weniger bekannt ist: Sie sind ein Vogel-Nerd und suchen mit Ihrem Fernglas tagelang den Himmel ab. Warum? Amsel, Meise, Möwe – ist doch alles dasselbe. Jonathan Franzen: Ganz und gar nicht. Einzelne Vögel haben zwar selten eine eigenständige Persönlichkeit, aber die Arten unterscheiden sich enorm. Ich erkenne sie, wie ich Gesichter guter Freunde erkenne. Sie zu beobachten, ist einerseits ein ästhetisches Vergnügen, vergleichbar mit der Betrachtung grossartiger Gemälde. Zum anderen ist es ein Gefühl reiner Liebe. Liebe? Ich habe ein besonderes Interesse an Seevögeln: Albatrosse zum Beispiel betreten die ersten fünf Lebensjahre kein Land. Oder Sturmschwalben: Sie sind so gross wie ein Star und verbringen praktisch ihr ganzes Leben in kaltem Wasser. Mauersegler können ein Jahr lang in der Luft bleiben und im Flug fressen und schlafen. Der Tag, an dem sie im Frühling zurückkehren und man sie in den Lüften hört, das ist, als würde ich einen alten Freund wiedersehen. Diese Art von Liebe. Sprechen Sie mit ihnen? Mein Lieblingsvogel ist die kalifornische Grundammer. Auf den ersten Blick sieht sie langweilig aus mit ihren braunen Federn und den pfirsichfarbenen Schimmern. Für mich ist sie aber voller subtiler Schönheit. Und was ich besonders mag: Grundammern sind nie weiter als zwanzig Meter voneinander entfernt und rufen sich einen einfachen Laut zu: «Tick, tick, tick, tick». Damit sagen sie nur: «Hey, bist du da?» «Ja, ich bin da!» «Hey, bist du da?» «Ja, ich bin da!» Ich finde das reizend. Wenn ich also eine Grundammer sehe, dann sage ich: «Hallo, wie geht’s?» Bald ist Frühling, doch das Singen und Zwitschern verstummt. Beinahe 60 Prozent aller Feldvögel Europas sind verschwunden, darunter Lerchen, Kiebitze, Sperlinge. Europa ist ein schrecklicher Kontinent, ökologisch gesehen. Vögel wie die Grauammer standen früher auf jedem Zaunpfosten, heute sind sie seltener – und in Ländern wie Belgien komplett ausgestorben. Das hat mit der intensiven Landwirtschaft zu tun und der zunehmenden Fragmentierung des Lebensraums, der Umweltverschmutzung und den Pestiziden. Zudem sterben jedes Jahr Hunderte Millionen Vögel wegen Kollisionen mit Fenstern, und die monokulturellen Wälder mögen vielleicht gut für die Forstwirtschaft sein, aber ökologisch gesehen sind sie Ödland. Nicht zuletzt ist die Jagd völlig ausser Kontrolle, insbesondere im Mittelmeerraum. Italien ist schrecklich, Griechenland und Frankreich entsetzlich. Schlimmer als in den USA? Dort herrscht eine fast obsessive Jagdkultur. Abgesehen von ungezogenen Schülern schiesst hier niemand auf kleine Vögel. Wir jagen Bären und Hirsche. Ist das besser? Es sollten eigentlich viel mehr Hirsche geschossen werden. Die USA haben ein riesengrosses Problem mit Waffen, verstehen Sie mich nicht falsch, aber das hat mit den Jägern nur wenig zu tun. Mir ist keine amerikanische Vogelart bewusst, deren Bestand von Jägern bedroht ist. In Zentraleuropa schon, da gefährden Jäger Dutzende Arten. Zu allem Übel kommen die vielen Katzen. Walter Berglund, ein Protagonist in Ihrem Roman «Freiheit», tötet Katzen, um Vögel zu schützen. Hatten Sie schon Mordphantasien? Die Katzen, die ich hasse, sind diejenigen, die draussen sein dürfen. Aber ich bin kein Killer. Und Katzen können nichts dafür, wenn sie nach draussen gelassen werden. Die Schuld liegt bei den Menschen. In den USA werden pro Jahr mehr als eine Milliarde Vögel von Katzen getötet. Ich bin freundlich zu den Hauskatzen, die ich kenne, aber wenn ich eine hinter meinem Haus erspähe, jage ich sie weg. Manchmal träume ich davon, eine Katze mit meinem Gartenschlauch nasszuspritzen. Vögel können ganz schön nerven, Tauben sind in Städten eine richtiggehende Plage. Ich bin nicht sentimental, wenn es um Vögel geht, sie faszinieren mich auch wegen ihrer Andersartigkeit, ihrer Wildheit und Gleichgültigkeit gegenüber menschlichen Normen. Aber es gibt viel schlechtes Benehmen in der Vogelwelt. Enten sind vielleicht die schlimmsten. Erpel, also männliche Enten, sind Vergewaltiger. Die Weibchen sind ein Leben lang damit beschäftigt, nicht vergewaltigt zu werden. Stimmt es, dass Sie aus diesem Grund keine Enten essen? Und was kommt an Thanksgiving auf den Tisch? Truthähne sind keine Enten. Wenn an Thanksgiving die Familie vorbeikommt, gibt es Truthahn. Sie essen Huhn? Gelegentlich. Ich esse nicht viel Fleisch, und ich bin Teil der privilegierten Klasse, die es sich leisten kann, Hühner zu kaufen, die nicht in winzigen Käfigen aufwuchsen. Ich halte das für einen vernünftigen Kompromiss. Wenn ich ein besserer Mensch wäre, ässe ich gar kein Fleisch, denn aus rein moralischer Perspektive ist es unhaltbar, Fleisch zu essen. Sie kämpfen gegen die Vogeljagd in Albanien oder waren schon auf Zypern, um über das brutale Töten von Singvögeln zu schreiben. Was ist der Unterschied zwischen einem Huhn in der Pfanne und einem Singvogel? Zuchttiere haben nicht viel mit wilden Tieren zu tun. Ich mache da eine sehr klare Unterscheidung. Wenn man einen wilden Vogel sieht, dann ist das immer auch ein Repräsentant funktionierender Ökosysteme. Nehmen wir eine Drossel im New Yorker Central Park, die kann im Frühling nur dort sein, weil sie den Winter im Osten Mittelamerikas in einem Wald verbringen konnte, der genug Nahrung bot. Der Vogel für sich allein ist ein schönes Wesen – aber er ist auch ein Symbol für unsere ethischen Werte und die Verbindung zu einer natürlichen Welt, die im Schwinden begriffen ist. Anna Higgie Sind Sie ein Vogelschützer oder ein Umweltschützer? Tatsächlich bin ich zu einem Aktivisten geworden. Ich widme Umweltschutzfragen viel Zeit und kritisiere die Prioritäten. Die ausschliessliche Fokussierung auf die Klimaerwärmung halte ich für falsch. Andere Umweltprobleme kommen kaum zur Sprache, weil es nur um den CO2-Ausstoss geht. Die Klimakatastrophe sei nicht mehr abzuwenden, haben Sie in einem Essay geschrieben. Ihre Kernbotschaft lautet: Es ist zu spät. Retten wir, was zu retten ist. Die Reaktionen waren drastisch. Man warf Ihnen vor, Sie seien ein Zyniker, ein alter weisser Mann, ein Klimaleugner. Stellen Sie sich vor, Sie haben als

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