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Dies & Das: Eine Generation von schwachen Menschen

Interview Michael Furger 13.11.2021 Aus den heutigen Kindern wird später «eine Generation von schwachen Menschen» NZZ am Sonntag: Herr Maas, sind die heutigen Kinder glücklich? Rüdiger Maas: Verglichen mit den älteren Generationen waren Kinder noch nie so unglücklich wie heute. Wie kommen Sie darauf? Ich bin selbst Vater von zwei Kindern. Hätte ich es nicht wissenschaftlich untersucht, hätte ich es nicht bemerkt. Ich sehe ja auch meine Kinder lachen oder weinen, aber ich habe keine Vergleichsmöglichkeiten zu früher. In unseren Studien stützen wir uns auf die Aussagen von über tausend pädagogischen Fachkräften. Und die sagen: Hier ändert sich gerade was. Was ändert sich? Die Kinder können heute weniger vertieft spielen und dürfen weniger Kind sein, als es noch vor fünf oder zehn Jahren der Fall war. Ihre Frustrationstoleranz sinkt, sie haben mehr Probleme, Konflikte zu lösen. Und diese Analysen decken sich mit den Erkenntnissen der Weltgesundheitsorganisation WHO, der Unicef und des Deutschen Kinderhilfswerks, die vermehrt depressive Symptome und andere Probleme bei Kindern feststellen. Wo haben unsere Kinder ihr Glück verloren? Irgendwo zwischen einer neuen Generation von Eltern, der Digitalisierung, einem Wohlstand, der kein Limit mehr kennt – und Corona. Die Pandemie war zwar kein Verursacher, aber sie hat die Entwicklung beschleunigt. Beginnen wir von vorne. Wen meinen Sie, wenn Sie von einer neuen Elterngeneration sprechen? Die Generation Y, also die sogenannten Millennials. Sie sind nun zwischen 30 und 40 Jahre alt und haben Kinder bekommen. Sie sind nicht nur in einem beispiellosen Wohlstand aufgewachsen, sondern sind auch die erste Elterngeneration, die mit dem Computer gross geworden ist und schon in ihrer Jugend googelte, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Nahezu alles, was noch bei anderen Generationen das Bauchgefühl entschieden hat, kann nun Google beantworten. Die Generation Y hält sich auch mehr als andere in Online-Diskussionsforen auf. Welchen Einfluss hat das auf die Erziehung? Die eigene Intuition sowie die Qualität von Erfahrungswissen, das beispielsweise früher die eigenen Eltern ihren schwangeren Töchtern mitgaben, zählt nicht mehr in dem Masse, wie es für die letzten Elterngenerationen gezählt hat. Man kann ja alles aus dem Netz ziehen. Das wird dadurch verstärkt, dass die Erstgebärenden immer älter werden. Mit steigendem Alter werden wir risikoscheuer. Damit steigt das Bedürfnis, sich immer aufwendiger zu informieren. Und was bedeutet das für die Kinder dieser Generation? Sie werden von Eltern grossgezogen, die so unsicher sind wie keine andere Generation vor ihr, die sich ständig mit anderen vergleicht. Das führt zu ein paar bedenklichen Entwicklungen. Welchen? Diese Elterngeneration nimmt ihre Kinder nicht als Kinder wahr, sondern als beste Freunde. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit läuft das Küken nicht hinter der Ente her, sondern die Ente hinter dem Küken. Das hat natürlich viel mit der Digitalisierung zu tun. Nicht mehr die Eltern wissen Bescheid, sondern ihre Nachkommen. Heutige Väter und Mütter bewundern ihre Kinder oft so sehr, dass es zu einem Art Rollentausch in der Eltern-Kind-Beziehung kommt. Wir haben eine Generation von Eltern, welche die grössten Fans ihrer Kinder sind. Was ist schlimm daran, wenn man seine Kinder toll findet? Nichts. Doch der Rollentausch führt dazu, dass die Kinder bestimmen, wo es langgeht. Aus Unsicherheit nehmen Eltern schon ein zweijähriges Kind so ernst, dass es mitentscheiden darf, was es anzieht, wo es heute hingeht, wie das Kinderzimmer ausschaut. Viele geben zu, dass sie Konflikte mit ihren Kindern scheuen und keine klaren Grenzen mehr setzen. Sie verlieren sich in ihrer Rolle und sind keine Abgrenzungssubjekte mehr. Das nimmt zum Teil bizarre Formen an. Zum Beispiel? Da werden von den Kindern auch Trends übernommen. Eltern finden die gleichen Musiker cool wie die Kinder und tragen die gleiche Mode. Überlegen Sie mal, wie das in den achtziger Jahren war. Heavy Metal war für unsere Mütter und Väter ein Graus – und wenn nicht, dann waren es komische Eltern. Aus unseren Befragungen geht auch hervor, dass viele Eltern traurig sind, wenn ihre Kinder beginnen, Geheimnisse vor ihnen zu haben, und Gleichaltrige zu besten Freunden werden. Kinder scheinen für sie zu einer Art Freundes- oder Partnerersatz zu werden. Das ist nicht normal. Wir müssen unseren Kindern Eltern sein. Ein Kind kann viele Fans und Freunde haben. Aber es hat nur einen Vater und eine Mutter. Was macht das mit den Kindern, wenn sie sich nicht mehr abgrenzen können? Sie gewöhnen sich daran, dass sie bestimmen dürfen, wo es langgeht, und finden es seltsam, wenn der Lehrer oder später der Arbeitgeber das nicht akzeptiert. Wenn Eltern nicht mehr wissen, wie man Nein sagt, kann sich keine Frustrationstoleranz und keine Resilienz herausbilden, also keine psychische Widerstandsfähigkeit. Man lernt nicht, mit Kritik umzugehen und Konflikte auszutragen. Das sehen wir übrigens schon bei ganz Kleinen. Erzieher sagen uns, dass die Fähigkeit, unter Gleichaltrigen Konflikte zu lösen, nachgelassen hat, weil die Eltern immer sofort für ihre Kinder schlichten. Moment, soll man sich denn nicht für seine Kinder einsetzen? Natürlich. Aber Kinder müssen auch selbst negative Erfahrungen machen. Es gehört halt zum Leben, etwas zu bewältigen, ohne dass die Eltern zwei Meter daneben sitzen. Es geht darum, Empathie zu trainieren, Mimik und Gestik zu interpretieren und eigene Regeln auszuhandeln. Diese grundlegenden Dinge haben Kinder zuvor beim gemeinsamen Spielen gelernt. Wir stellen eine steigende Angst vieler Eltern fest, ihre Kinder allein draussen spielen zu lassen. Mit der Überprotektionierung hat allerdings schon die Vorgängergeneration begonnen. Laut unserer Studie ist bereits heute in Deutschland jedes siebte Kind total überbehütet. Ich gehe davon aus, dass es in der Schweiz ähnlich ist. Wir hören von Eltern, die junge Erwachsene zum Mitarbeitergespräch in die Firma begleiten oder zur Vorlesung an der Universität. Diese Fixierung führt heute übrigens noch zu einem ganz neuen Phänomen, dem Sharenting. Wie bitte? Sharenting – ein Begriff, zusammengesetzt aus dem englischen sharing für «teilen» und parenting für «erziehen». Es meint den Vorgang, wenn Eltern permanent Bilder oder Informationen über ihre Kinder im Internet teilen. Ein Phänomen, das mit der Elterngeneration der Millennials aufgetaucht ist. Sie sind mit sozialen Netzwerken erwachsen geworden. Kinder haben natürlich keine Entscheidungsgewalt darüber, ob sie und die mit ihnen verbundenen Situationen im Netz abgebildet werden. Entscheidend ist aber

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