Dies & Das: Einsperrwirrwarr rund um die Sicherungshaft in Europa

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Irene Brickner 

20. Jänner 2020

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Einsperrwirrwarr rund um die Sicherungshaft in Europa

Die ÖVP-Forderung wird gerne damit argumentiert, dass sie in Europa üblich sei. Sie ist aber höchst unterschiedlich ausgeprägt. Kanzler Kurz: Eine Haftform kommt

Sollen „Gefährder“ in Haft genommen werden können, auch wenn sie noch keine Tat begangen haben? Die ÖVP will das ebenso wie die FPÖ, die Regeln in Europa sind dazu recht unterschiedlich. Foto: APA/dpa/Christoph Reichwein

Wien – Einmal mehr hat Sebastian Kurz (ÖVP) am Montag angekündigt, dass Personen, die ein Gewaltverbrechen begangen haben und eine Drohung aussprechen, künftig in Sicherungshaft genommen werden können. „Wir haben uns im Regierungsprogramm auf die Sicherungshaft verständigt, sie wird auch kommen“, sagte Kurz im Rahmen einer Pressekonferenz zum Start des 5G-Mobilfunknetzes von A1. „Zuständig sind die Justizministerin und der Innenminister, die gemeinsam mit Experten die entsprechenden Vorschläge ausarbeiten werden.“ Die Grünen zeigen sich weiterhin zurückhaltend und werden nicht müde zu betonen, dass die Regelung verfassungskonform sein muss, wie auch Vizekanzler Werner Kogler im STANDARD-Gespräch erklärte.

Die Bluttat im Vorarlberger Dornbirn, die ursprünglich zum Anlass der Kontroverse um Einführung einer Sicherungshaft in Österreich führte, liegt rund elf Monate zurück. Herbert Kickl, damals blauer Innenminister, ließ nach dem Verbrechen nur wenige Tage vergehen, um seine Vorschläge zu präsentieren.

Für „gefährliche Asylwerber“

Die Sicherungshaft solle für „gefährliche Asylwerber“ gelten, wenn diese eine „Bedrohung für die nationale Sicherheit und öffentliche Ordnung“ darstellten, sagte Kickl am 14. 2. 2019. Österreich werde in der EU damit kein Neuland betreten, schob das Innenministerium wenig später nach. Einen solchen Hafttatbestand gebe es bereits in 15 anderen EU-Staaten: in Irland, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Slowenien, Kroatien, Griechenland und Zypern.

Seitdem geistern diese EU-Staaten, in denen eine Sicherungshaft möglich ist, durch Politikeraussagen und die Berichterstattung zu dem Aufregerthema. Doch Informationen, wie die nationalen Regelungen aussehen und ob sie den Forderungen von Türkis-Blau entsprechen – sowie unter Türkis-Grün nur jenen der ÖVP –, sind rar.

In 16 EU-Staaten umgesetzt

Aus diesem Grund hat der Standard Ecre kontaktiert, den paneuropäischen Zusammenschluss von Flüchtlingsunterstützungs-NGOs in Brüssel. Ecre unterhält die europaweite Asylum Information Database (Aida), in der insgesamt 23 Staatenberichte enthalten sind – unter anderem über die jeweiligen Haftformen für Asylwerber. Eine Durchsicht zeigt: In 18 der 23 Länder, darunter die 15 kolportierten, gilt „Gefahr für die nationale Sicherheit und öffentliche Ordnung“ als Asylwerberhaftgrund. Zwei dieser Länder, Serbien und die Türkei, sind keine EU-Mitglieder: Die Liste des Innenministeriums muss also um einen Staat – und zwar Portugal – ergänzt werden.

Wie nun funktioniert in diesen 16 Ländern besagter Freiheitsentzug? Von einer Haft zu Verfahrensbeginn, etwa um die Identität einer Person festzustellen, oder aber am Ende zwecks ihrer Abschiebung ist er bekanntlich zu unterscheiden. Hier wird die Sache komplex: Die Bandbreite nationaler Regelungen reicht von Gesetzespassagen, die in der Praxis nie angewendet werden, bis hin zu Haftformen, die hunderte oder gar tausende Flüchtlinge betreffen. Hinzu kommen Länder, die Präventivhaft über den Kreis von Asylwerbern hinaus kennen. In Deutschland etwa gibt es den Unterbindungsgewahrsam.

Rechtlich vorgesehen, ohne aber eingesetzt zu werden, ist besagte Asylwerberhaft etwa in Portugal. 2018 wusste man dort von keinem einzigen Fall. Bulgarien meldete im selben Jahr zehn Inhaftierungen wegen Gefährlichkeit einer Person oder zur Identitätsfeststellung, beides zusammengenommen.

In Irland Ausreise als Alternative

In Irland ist die von einem Asylwerber ausgehende Gefahr einer von sechs Gründen für eine Haft, die als nicht EU-konform in der Kritik steht. Betroffenen Flüchtlinge wird als Ausweg die Ausreise angeboten; Inhaftierungszahlen waren nicht eruierbar. Dasselbe gilt für Belgien, wo Asylwerber nach individueller Prüfung wegen Gefährlichkeit eingesperrt werden können – wenn sich mildere Mittel als ineffektiv herausgestellt haben.

Sicherungshaftkaiser hingegen sind Ungarn, Polen sowie Griechenland,wobei aus den beiden rechtsregierten Visegrád-Staaten die intensivste Inhaftierungstätigkeit berichtet wird. In Polen werde Gefahrverdacht gegen Asylwerber „von den Sicherheitsdiensten in den Unterkünften erhoben und den Behörden übermittelt“, schildert ein Anwalt des dortigen Helsinki-Komitees. Die Sicherungshaft werde vom Bezirksgericht ausgesprochen und könne bis zu sechs Monate dauern. Die Zahl Betroffener nehme jährlich zu.

Martialisches Ungarn

Sechs Monate Maximaldauer gilt auch in Ungarn – und schwebte übrigens auch Türkis-Blau in Österreich vor. Doch in der Praxis säßen auf dieser Grundlage immer weniger Asylwerber ein, berichtet ein Mitarbeiter des Budapester Helsinki-Komitees: „Die Zahl hat stark abgenommen, weil die meisten Flüchtlinge schon in den sogenannten Transitzonen an den Grenzen de facto eingesperrt sind.“

Woran aber liegt die EU-weite Uneinheitlichkeit bei der Umsetzung der Freiheitsentziehung von Asylwerbern wegen Gefahr für die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung? Sie hat mit dem Umstand zu tun, dass die EU-rechtliche Grundlage für sie nur ein lapidarer Passus in der EU-Aufnahmerichtlinie ist. In welcher Form er in nationales Recht übertragen wird, ist nicht vorgeschrieben.

In Österreich verzichtete man auf die Umsetzung ganz, denn das Bundesverfassungsgesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit sieht diesen Haftgrund nicht vor: eine EU-weite Sondersituation. Zudem steht hierzulande die Europäische Menschenrechtskonvention im Verfassungsrang. „Dadurch ist eine Sicherungshaft eigentlich unmöglich“, sagt Verfassungsexperte Bernd-Christian Funk. (Irene Brickner, 20.1.2020)

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