Dies & Das: Bildungspolitische Glühwürmchen

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KARL HEINZ GRUBER

KOMMENTAR DER ANDEREN

11. Jänner 2020

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Bildungspolitische Glühwürmchen

Wo sind die „Leuchtturmprojekte“, die die Grünen versprechen? Die visionslose Dürftigkeit im Bildungskapitel des Koalitionsabkommens ist deprimierend

Im Gastkommentar widmet sich Bildungsexperte Karl Heinz Gruber den türkis-grünen Bildungsplänen. Eine grüne Handschrift hat er nicht entdeckt, dafür „türkis-blaue Altlasten“.

Niemand hat erwartet, dass das Kapitel Bildung des türkis-grünen Koalitionsabkommens ein atemberaubendes Feuerwerk an wohlüberlegten Schulreformen präsentieren würde, aber die visionslose Dürftigkeit dieser Auflistung von unverbindlichen Gemeinplätzen und No-na-Selbstverständlichkeiten ist deprimierend; „wenn alles gut geht“, ist das die Basis und der Kompass der Schulentwicklung für die nächsten fünf Jahre. Dass die ÖVP die bildungspolitischen Ladenhüter der Regierung Kurz I als Mitgift einbringen würde, war zu erwarten. Wo aber sind die „Leuchtturmprojekte“, die einem auf der Homepage der Grünen versprochen werden, oder wo sind denn wenigstens ein paar grüne bildungspolitische Glühwürmchen in der Düsternis der türkis-blauen Altlasten?

Man hätte allerdings gewarnt sein müssen: Werner Kogler war mit der Rettung des Regenwaldes, der Verbannung von Dieselmotoren und der Verbrüderung mit Sebastian Kurz voll ausgelastet; die Koordinatorin der grünen Bildungsgruppe, Sigrid Maurer, scheint schon lange nicht mehr in eine Schultasche geschaut zu haben, und der Koalitionsmitverhandler und frühere Bildungssprecher Harald Walser bekannte im ORF-Interview, dass ihm das Abkommen „bildungspolitisches Bauchweh“ bereitete.

Das bildungspolitische Dickicht erleuchten nur wenige grüne Glühwürmchen.
Foto: Getty Images

Fortschreibung des Status quo

An dieser Stelle ist eine „declaration of interest“ fällig: Ja, auch ich halte unter allen möglichen Koalitionsoptionen die türkis-grüne für die plausibelste, aber das befreit das Bildungskapitel nicht von unerlässlicher Kritik. „Das Beste aus beiden Welten?“ Die türkisen Spindoktoren, die Kurz diese griffige Formulierung eingeflüstert haben, dürften jetzt noch vor lauter Lachen ihren Prosecco verschütten.

Beim Bildungskapitel handelt es sich nämlich um nicht viel mehr als um eine Fortschreibung des bildungspolitischen Status quo im doppelten Sinn des Wortes „fort-schreiben“: Einerseits werden die Grauslichkeiten des türkis-blauen Pädagogikpakets fort-geführt und beibehalten (wer in der zweiten Volksschulklasse nicht spurt, bleibt sitzen), andererseits werden grundlegende Reformversprechungen des grünen Bildungsprogramms fort-gelassen und durch Banalitäten wie „Die Bundesregierung hat eine positive Sicht auf die Konzepte der flexiblen Schuleingangsphase“ oder „Forschung zur Elementarpädagogik ist zu begrüßen“ ersetzt. Na dann – Habediehre!

Raueres Schulklima

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie des Schicksals, dass das türkis-grüne Bildungspaket genau zu dem Zeitpunkt präsentiert wurde, als in Wien die Anmeldungen für die AHS begannen. Während die Eltern ihre Sprösslinge heuer noch auf der Basis der Halbjahreszeugnisse der vierten Volksschulklasse bei einem Gymnasium anmelden können, wird ihnen in Zukunft ein sehr viel kälterer Wind entgegenwehen. Im Koalitionsabkommen heißt es nämlich: „Die Entscheidung über die weiterführende Bildungslaufbahn soll nicht mehr nur von einer Leistungsfeststellung (Schulnachricht der vierten Schulstufe) abhängig gemacht werden, sondern auf der Basis der Ergebnisse einer individualisierten Kompetenzfeststellung in der dritten Schulstufe, des Jahreszeugnisses der dritten Klasse und der Schulnachricht der vierten Klasse getroffen werden.“

Tja, liebe Kinder, zieht euch warm an! Greta Thunberg sagt euch nur die halbe Wahrheit. Global gesehen macht der Klimawandel die Erde wärmer, in Österreich hingegen wird das Schulklima rauer und kälter.

Kinderfeindlichkeit und Wissenschaftsferne

Derart frühzeitige Weichenstellungen von Bildungslaufbahnen und in vielen Fällen zugleich berufsrelevante Vorentscheidungen wären in Europa nicht bloß ein Unikum, sondern wegen ihrer Kinderfeindlichkeit und Wissenschaftsferne eine vielbeachtete Ungeheuerlichkeit. Wie fair und wie prognostisch wertvoll kann eine Beurteilung der Begabungen und Interessen von achteinhalb Jahre alten Kindern sein, bei denen die Lehrerinnen gerade einmal zweieinhalb Jahre Zeit hatten, familiär bedingte Lerndefizite zu kompensieren und den Kindern über die Vermittlung der elementaren Kulturtechniken hinaus die vielfältige Welt des Lernens zu erschließen?

Was hier gemessen wird, sind nicht die Kompetenzen der Kinder, als vielmehr das Förderpotenzial von mehr oder weniger ambitionierten und bildungsbewussten Elternhäusern. Und da zeigen schon bisher die Nationalen Bildungsberichte und die Pisa-Resultate, dass nirgendwo in Europa die soziale Herkunft den Schulerfolg und die Bildungskarrieren so stark mitentscheidet wie in den früh auslesenden deutschsprachigen Ländern. Natürlich werden Grundschüler in vielen Ländern getestet, aber dort haben Tests in der Regel eine diagnostische, förderliche Funktion und sind nicht, wie in Österreich, Instrumente der Selektion und schulischen Segregation.

Mehr „Troubleshooting“

Eines der Vorhaben, das die Grünen für sich als „Leuchtturmprojekt“ reklamieren, ist ein Förderprogramm für 100 Schulen, die im Koalitionspapier euphemistisch-verschämt „Schulen mit besonderen Herausforderungen“ genannt werden. Genaueres wird nicht gesagt, aber es dürfte sich dabei um Schulen handeln, die in Deutschland „Brennpunktschulen“ heißen: negativ ausgelesene Haupt- beziehungsweise nunmehr Mittelschulen und Polytechnische Schulen in städtischen Problemvierteln. Dass solche Schulen nicht bloß das Produkt der sozial segregierten Wohnungssituation in Großstädten, sondern auch das Nebenprodukt eines früh auslesenden, sozial segregierenden Schulsystems sind, dürfte auch den Grünen klar sein.

Die OECD hat schon vor 20 Jahren im ersten Pisa-Bericht darauf hingewiesen, dass in Ausleseschulsystemen ein unverhältnismäßig hoher Anteil der Ressourcen zum „Troubleshooting“ in den negativ ausgelesenen Bildungssektor gesteckt werden muss. Möglicherweise ist dieses Projekt der Versuch der Grünen, ihr schlechtes Gewissen darüber zu beruhigen, dass sie auf jegliche Strukturreform verzichtet haben.

Radikale Neuorganisation

Die wohl am wenigsten durchdachten Maßnahmen sind die von Kurz wiederholt propagierte Einführung einer „Mittleren Reife“ im neunten Schuljahr und die „Bildungspflicht“ bis zum 18. Lebensjahr für diejenigen Jugendlichen, die bis zum Ende der Schulpflicht nicht MindestStandards in Deutsch, Mathematik und Englisch erreicht haben.

Wenn die „Mittlere Reife“ nicht bloß ein umgetaufter Abschluss des Polytechnisches Jahres werden soll, sondern ein polyvalenter Pflichtschulabschluss für alle 15-Jährigen, würde das eine radikale Neuorganisation der österreichischen Sekundarschulen einschließlich der AHS erfordern, mit einer Zäsur in allen Schullaufbahnen und Lehrplänen nach dem neunten Schuljahr. Und was die sogenannte Bildungspflicht betrifft: Schulerfolg wie schulischer Misserfolg sind multikausale Phänomene – Produkte von Begabung, Anstrengung, sozialer Herkunft und auch der Qualität des vorausgegangenen Unterrichts. Jugendliche bis 18 sitzenbleiben zu lassen klingt einfach, dürfte jedoch zu „Schulen mit ganz besonderen Herausforderungen“ führen.

Zum Abschluss noch ein uneingeschränkt lobenswertes grünes Glühwürmchen im Koalitionsabkommen: Die Schuljausen sollen regionaler, saisonaler und biologischer werden – mehr Bioschnittlauch aufs Vollkornbiobutterbrot. (Karl Heinz Gruber, 11.1.2020)

Karl Heinz Gruber ist Altordinarius für Vergleichende Erziehungswissenschaft an der Universität Wien.

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