- Problem Bodenversiegelung
- NGO-Bericht: Pro Minute werden in Österreich 100 Quadratmeter Boden verbraucht
- Anreize über Förderungen
- Vertrag zwischen Bund, Ländern und Gemeinden gefordert
- Diskussion
- Dürfen wir bald nicht mehr in Einfamilienhäusern wohnen?
- Neoliberale Beißwut
- Pawlow’sche Erregung
- Bodenverschwender
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Problem Bodenversiegelung
NGO-Bericht: Pro Minute werden in Österreich 100 Quadratmeter Boden verbraucht
Wien – Gerade im Lockdown haben viele Österreicher das Grüne zu schätzen gelernt: Spazierengehen, Wandern, Radfahren. Doch die möglichen Freiräume für die Outdoor-Aktivitäten schrumpfen zunehmend. Laut einem am Dienstag von der Umweltschutzorganisation WWF präsentierten Bericht haben Bodenversiegelung und -verbrauch in Österreich ein hohes Ausmaß erreicht: Nach Angaben der NGO wird in etwa alle zehn Jahre die Fläche Wiens neu verbaut.
Die drei wesentlichen Treiber für die Verbauung sind laut Maria Schachinger vom WWF der massive Straßenausbau, die Zersiedelung und der Bau von Großinfrastruktur. Demnach hat sich die Anzahl der Shoppingcenter und Gewerbeparks in Österreich in den vergangenen zwanzig Jahren mehr als verdoppelt.
Schachinger spricht von einem Versagen in der überregionalen Raumplanung – vor allem, was den Straßenbau anbelangt. Im ganzen Land seien mittlerweile so viele Straßen gebaut worden, dass die Strecke dreimal um den Äquator herumreicht, rechnet die Umweltschützerin vor. „Österreich hat eines der dichtesten Straßennetze in ganz Europa.“ Zugleich sei die Infrastruktur für Rad und Bahn ausbaufähig, viele Menschen seien auf das Auto angewiesen.
Dem Bericht zufolge ist beinahe ein Fünftel der bewohnbaren oder landwirtschaftlich geeigneten Fläche bereits verbaut, nur mehr sieben Prozent der Landesfläche als „sehr naturnah“ einzustufen. Diese Entwicklung würde ungehindert weitergehen, hieß es in einer Pressekonferenz am Dienstag. Demnach ist das Nachhaltigkeitsziel von maximal 2,5 Hektar Bodenverbrauch pro Tag bis 2010 seither um über 42.000 Hektar überschritten worden. Derzeit liege der Bodenverbrauch im Dreijahresmittel bei rund 4.440 Hektar pro Jahr. Nach WWF-Berechnungen gehen pro Minute im Schnitt knapp 100 Quadratmeter Boden verloren.
Die zunehmende Versiegelung und Verbauung bringt aus Sicht der Umweltschützer eine Vielzahl von Problemen mit sich: Die Zerschneidung der Landschaft durch Straßen behindert Wanderungen von Tieren und ist schlecht für die Biodiversität, heißt es beim WWF. Aber auch für den Menschen sei die Baufreude ein Problem. Vor allem in Städten würde die Versiegelung zunehmend zu Hitzeinseln führen.
Anreize über Förderungen
Der häufig kritisierte Bau von Einfamilienhäusern fällt aus Sicht der Organisation nicht besonders schwer ins Gewicht. Viel wichtiger sei die Frage, wo das Haus steht. Hier könne die Politik aus Sicht des WWF gezielte Anreize über Wohnbauförderungen und Flächenwidmungen setzen. Einzelpersonen könnten zudem mithelfen, indem sie auf Schottergärten und asphaltierte Parkplätze verzichten.
Besorgniserregend sei aus Sicht der Organisation vielmehr die sich öffnende Schere zwischen der Bevölkerungszahl und der verbauten Fläche: Während die Bevölkerung seit 2001 um 10,4 Prozent gewachsen ist, stieg die Flächeninanspruchnahme laut dem Bericht im gleichen Zeitraum um 27 Prozent.
Nach wie vor würde die rechtliche Verbindlichkeit bei dem Thema fehlen, kritisierte Hanna Simons, stellvertretende Geschäftsführerin der Umweltschutzorganisation. Die Gewaltenteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden würde für mehr Zersiedelung sorgen: „Wenn Länder den Gemeinden Spielraum lassen, dann wird der genützt.“ So gebe es in Österreich zu viele Ausnahmeregelungen im Baubereich sowie kontraproduktive finanzielle Anreize. Dazu zählt Simons klimaschädliche Förderungen und Subventionen, wie etwa die Pendlerpauschale, die aus ihrer Sicht die Zersiedelung vorantreibt. Zudem würde die Kommunalsteuer den Wettbewerb zwischen den Gemeinden fördern, anstatt das Denken in Gemeindeverbünden zu unterstützen.
Vertrag zwischen Bund, Ländern und Gemeinden gefordert
Die Organisation fordert die Regierung dazu auf, einen Bodenschutzvertrag zwischen Bund, Ländern und Gemeinden zu etablieren – und die Verbauung bis 2030 verbindlich auf maximal einen Hektar pro Tag zu begrenzen. Wie diese Fläche unter den Gemeinden aufgeteilt werden soll, sei keine leichte Aufgabe, hieß es am Dienstag. Hier müssten unterschiedliche Dynamiken in Ballungszentren und im ländlichen Raum berücksichtigt werden.
Darüber hinaus schlägt der WFF vor, eine bundesweite Leerstandsdatenbank anzulegen, damit bestehende Infrastruktur besser genützt werden kann. Mit geeigneten Förderprogrammen könnte der derzeitige Leerstand gut gefüllt werden, ist man sich bei der NGO sicher. (lauf, 9.2.2021)
Diskussion
Dürfen wir bald nicht mehr in Einfamilienhäusern wohnen?
PostingsAls Michael Werner-Boelz vor genau einem Jahr Leiter des Bezirksamts Hamburg-Nord wurde, kündigte er als Erstes seinen Dienstwagen. Eine programmatische Ansage für den grünen Politiker, und nicht die einzige. Denn der grün-rote Bezirkskoalitionsvertrag vom Oktober 2019 kündigte an, die „wertvolle Ressource Boden effizient zu nutzen“ und in neuen Bebauungsplänen keine Einfamilienhäuser mehr auszuweisen. Was auf heftigen Widerspruch der bürgerlichen CDU stieß: „Einfamilienhäuser kategorisch auszuschließen ist weder nachvollziehbar noch vertretbar“, so deren Abgeordneter Jörg Hamann. Stattdessen solle man Hamburgs Familien „endlich den Traum vom Eigenheim ermöglichen“.
So weit, so normal. Wo sich Bezirks-, Partei- und Wohnbaupolitik begegnen, ereignen sich solche Diskussionen jeden Tag. Doch für Medien, die man früher konservativ nannte, ist das Wort „Verbot“ wie ein Schrank voller Süßigkeiten: zu verlockend, um nicht immer wieder zuzugreifen. Auch wenn das Haltbarkeitsdatum der Zuckerln schon lange überschritten ist.
Die Tageszeitung „Welt“ aus dem Hause Springer langte vor zwei Wochen als Erste zu und blies die Bezirkspolitik zum landesweiten Erregungsanlass auf. Nicht überraschend, führt doch Ulf Poschardt, „Welt“-Chefredakteur und neoliberales Twitter-Rumpelstilzchen, seit Jahren eine Kampagne gegen die „spaßfeindliche Verbotspartei“ der Grünen und spielt bei seinen At tacken gegen die „Moraldiktatur“ der „Ökos“ verbal auf der bewährten Trump-Klaviatur. Da werden Pappkameraden als ideologische Feindbilder aufgestellt, auf die man dann, „Venezuela! DDR! Nordkorea!“ schreiend, deuten kann. Der Hamburger Fall wurde so zur Drohkulisse: Bald würde in ganz Deutschland kein einziges Einfamilienhaus mehr erlaubt sein! DDR!
Neoliberale Beißwut
Erstaunlicher schon, dass sich auch der Hamburger „Spiegel“ vom Sog der Empörung mitreißen ließ und dräuend raunte: „Das neue grüne Wohnideal kommt aus dem Osten!“ Denn, so wird suggeriert, aus dem Osten kam ja noch nie etwas Gutes. „Das neue grüne Wohnideal sieht demnach so aus: Raus aus dem Townhouse mit Pelletheizung, rein in die sanierte Plattenbausiedlung.“ Zugegeben, das bundesgrüne Programm „Bauwende“ sieht in der Tat einen radikal neuen Umgang mit Ressourcen vor, aber damit liegt es exakt auf der Linie des von Ursula von der Leyen (CDU) 2020 propagierten „European Bauhaus“. Für das Wutbürger-Kommentariat jedoch gilt: Alles, was größer als ein Einfamilienhaus ist, wurde von Stalin höchstpersönlich in die Welt gesetzt.
Das kann man lächerlich finden, ist aber eine gefährliche Diskursverschiebung. Denn jene, die andere der Ideologie anklagen, sind genau die, die das Wohneigentum als Bollwerk der Freiheit gegen den „sozialistischen“ Massenwohnbau in Stellung bringen. Was der Realität keine Sekunde standhält. In Singapur, einem des Kommunismus unverdächtigen Staat, sind rund 80 Prozent aller Wohnungen staatlich, und im Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit existierten Einfamilienhausglück und Großwohnsiedlung prächtig nebeneinander. Auch die Drohkulisse des Plattenbaus ist statisch instabil. Heutige Wohnsiedlungen verwenden im Wesentlichen dieselben Bautechnologien wie Einfamilienhäuser, und Plattenbauten sind in der Regel nicht darunter.
„Es werden Bilder auf beiden Seiten aufgebaut, die mit der Realität nichts zu tun haben,“ sagt der Wiener Stadtforscher Robert Temel. „Geschoßwohnbau wird als Käfighaltung und Plattenbau tituliert, die Einfamilienhäuser werden mit Townhouses gleichgesetzt, um die es aber gar nicht geht. Das wahre Gegenbild zum Einfamilienhaus ist auch nicht die Großsiedlung der 1970er, sondern das urbane Wohnen. Aber das eignet sich eben weniger gut als Feindbild.“
Pawlow’sche Erregung
Auch die Pawlow’sche Erregervokabel vom „Verbot“ wird durch die Wiederholung nicht wahrer. „Die meisten gesetzlichen Maßnahmen sind Verbote oder Gebote. Warum das eine böse ist und das andere nicht, ist eine rein politische Bewertung“, sagt Temel. Es geht schließlich einfach um einen Bebauungsplan, der macht, was jeder Bebauungsplan macht: Er legt fest, wie gebaut werden darf und wie nicht. Auch die Seestadt Aspern und die Gründerzeitstadt in Wien sehen keine Einfamilienhäuser vor, trotzdem wirft ihnen niemand eine Verbotsideologie vor. Außerdem betrifft die Regelung in Hamburg-Nord ausschließlich Neubaugebiete. Wer bisher im Einfamilienhaus lebte, wie vermutlich ein Großteil der empörten hanseatischen Einstecktuchbrigade, darf das auch weiterhin tun. Nebenbei entsteht im Süden der Stadt gerade das Wohngebiet Vogelkamp Neugraben, ein Folgeprojekt der IBA Hamburg mit 1500 Wohneinheiten, fast alle davon in Einfamilienhäusern.
Bodenverschwender
Also alles nur ein Sturm im Waterkant-Wasserglas? Nein, denn natürlich sind Einfamilienhäuser ein Problem. Nur eben nicht alle. In traditioneller dörflicher Form sind sie flächensparend und intelligent, erst das freistehende Einfamilienhaus, das in großem Maßstab erst in den 1950er-Jahren auftrat, ist der große Bodenverschwender. Im Rahmen der (seit dieser Woche wieder zu besichtigenden) Ausstellung „Boden für alle“ am Architekturzentrum Az W wurde anhand statistischer Daten die Problemlage visualisiert.
„Wenn wir alle Einwohner Österreichs auf die bereits existierenden Ein- und Zweifamilienhäuser aufteilen, kommen wir auf durchschnittlich 4,16 Bewohner pro Wohneinheit. Das deutet darauf hin, dass es in diesem Bereich eine hohe Unterbelegung und eine beachtliche Leerstandsrate gibt. Und trotzdem werden statistisch gesehen jede Stunde in Österreich 1,74 neue Ein- oder Zweifamilienhäuser gebaut. Aber eigentlich müssten wir kein einziges neues Haus bauen!“, sagen die Kuratorinnen Karoline Mayer und Katharina Ritter.
Alternativen dazu gibt es genug. So entwickelte die Architektin Julia Lindenthal in ihrem Forschungsprojekt Rehabitat Möglichkeiten, bestehende Einfamilienhäuser für mehr Menschen zu nutzen: Das Eigenheim steht eben nicht nur für junge Familien im Bausparglück, sondern auch für einsame 80-jährige Witwen in nicht barrierefreien 300 Quadratmetern Wohnfläche am Ortsrand.
Auch der von Roland Rainer ab den 1960er-Jahren realisierte verdichtete Flachbau brachte Heim und Garten in platzsparende Form. Es geht also viel, ganz ohne Verbot. Das ist auch bis zur höchsten Ebene vorgedrungen: Nach der Veröffentlichung des WWF-Bodenreports versprach Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger vergangenen Mittwoch „eine große Raumordnungskonferenz mit Bundesländern und Gemeinden“ für den Herbst. Ganz unideologisch. (Maik Novotny, 12.2.2021)