BRÄNDE
Klimaforscher: „Wir brauchen einen Ausnahmezustand am Amazonas“
Der weltweite Klimamotor gerät ins Stocken, warnt Brasiliens Amazonas-Experte Antonio Donato Nobre
INTERVIEW Sandra Weiss
23. August 2019
„Die Menschheit begeht mit der Zerstörung des Amazonas Selbstmord“, sagt Professor Antonio Donato Nobre. Eigentlich ist der Wissenschafter eine ruhige, sanfte Person. Aber dass die Politiker und die Menschheit seit 40 Jahren seine Warnungen in den Wind schlagen, bringt den Biologen auf die Palme. Zuletzt kündigten sogar der französische Präsident Emmanuel Macron die deutsche Kanzlerin Angela Merkel an, die Waldbrände in Brasilien auf die Tagesordnung des G7-Gipfels in Biarritz setzen zu wollen.
Die Brände im Amazonasgebiet sind die schlimmsten seit Jahren, hunderte Quadratkilometer Tropenwald stehen in Flammen. Brasiliens Präsident Bolsonaro verteidigt Brandrodungen und wehrt sich gegen Kritik. DER STANDARD
Nobres Begeisterung für den Amazonas stammt von einer Studienreise als junger Agronom 1979. 14 Jahre lebte er in Manaus und forschte am Amazonasinstitut (Inpa). Heute sind seine Besuche im Dschungel wegen einer Herzoperation seltener. Dafür machen seine Forschungen Wirbel. Nobre gilt als einer der wichtigsten brasilianischen Amazonas-Spezialisten. Seine Theorie von den „fliegenden Flüssen“ und der Rolle des Amazonas für die Klimaregulierung hat weltweit Beachtung gefunden.
Derzeit arbeitet der 1958 geborene Forscher am Institut für Weltraumforschungen (Inpe) in São José dos Campos, dem unter anderem das Satelliten-Monitoring-Programm am Amazonas untersteht, dessen Daten den rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro so auf die Palme bringen.
STANDARD: Warum ist der Amazonas so wichtig für die Welt?
Nobre: Wälder regulieren das Klima. Der Erste, der diesen Zusammenhang zwischen Biologie und Meteorologie erkannt hat, war übrigens Alexander von Humboldt. Wälder sind ein entscheidender Faktor dafür, ob und wie viel es an bestimmten Stellen der Welt regnet. Nehmen wir Australien und den Amazonas. Rund um Australien gibt es viele Wolken, aber sie ziehen nicht übers Land, weil die Winde vom Land aufs Meer blasen. Am Amazonas ist es genau umgekehrt. Und das hat mit dem Wald zu tun. Er zieht die Feuchtigkeit aus dem Boden und transportiert sie in die Atmosphäre. Bis zu 1.000 Liter pro Baum am Tag. Das sorgt für ein Luftdruckgefälle. Er funktioniert also wie eine biologische Pumpe.
STANDARD: Sie sprechen auch von fliegenden Flüssen. Was genau ist darunter zu verstehen?
Nobre: Das ist ein Bild, das wir populärwissenschaftlich geprägt haben, um allen Menschen die unsichtbare Reise der Feuchtigkeit zu veranschaulichen. Es sind Ströme von Wasserdampf in der Atmosphäre, die sich ganz ähnlich wie Flüsse auf der Erde verhalten. Sie transportieren eine Menge Wasserdampf. Und Wasserdampf ist die Voraussetzung für Wolken, also für Regen. Fliegende Flüsse transportieren innerhalb der Atmosphäre Wasser von einem Ort zum anderen.
STANDARD: Und wieso sind sie am Amazonas so wichtig?
Nobre: Die Winde wehen gewöhnlich auf der Nordhalbkugel Richtung Südosten und auf der Südhalbkugel Richtung Nordwesten. Der Äquator ist die unsichtbare Grenze, wo die beiden aufeinanderprallen und es viele Turbulenzen gibt. Am Amazonas aber gibt es diese Grenze nicht, und Wind und Wolken ziehen die Anden entlang bis nach Patagonien. Wir haben Wassertropfen vom Amazonas im Süden Südamerikas gefunden.
STANDARD: Das heißt also, die fliegenden Flüsse sorgen dafür, dass es in Südamerika regnet und fruchtbare Gegenden gibt, etwa in Südbrasilien oder Argentinien.
Nobre: Richtig. Ohne den Amazonas würde es dort Wüsten geben, genauso wie am gleichen Breitengrad in Afrika. Dort liegt zum Beispiel Namibia. Wir merken die Veränderungen jetzt schon. In Mato Grosso, dem größten Anbaugebiet für Soja und Mais in Brasilien, wird jedes Jahr später gepflanzt, weil der Regen immer später im Jahr einsetzt.
STANDARD: Die Bilder aus dem Amazonas-Gebiet sind apokalyptisch. Wie steht es denn um den Amazonas als Klimamotor?
Nobre: Rund 20 Prozent des Amazonas-Gebiets wurden bereits abgeholzt und 40 Prozent beschädigt. Das ist grenzwertig, und der Klimamotor fängt bereits an zu stottern. Alle fünf Jahre gibt es am Amazonas starke Dürreperioden, gefolgt von extremen Niederschlägen. Wir entdecken nun manchmal schon Brände im unberührten Urwald, die nicht vom Menschen gelegt wurden. Das ist ein Zeichen dafür, dass das System außer Kontrolle gerät, und zwar immer schneller. Wenn der Wald fehlt, stoppt die Klimapumpe, mit der die Feuchtigkeit vom Ozean aufs Festland transportiert wird.
STANDARD: Ein Großteil der Abholzung ist menschengemacht. Wir schaffen also eine Wüste?
Nobre: Ja, das ist Selbstmord, aber nicht nur Brasiliens, sondern der ganzen Welt. Um diesen Irrsinn aufzuhalten, müssten wir eigentlich einen Ausnahmezustand verhängen. Doch Brasiliens Regierung ist in den Händen der Abholzer. Und auch alles andere, was die Regierungen der Welt bislang unternehmen, ist völlig unzureichend und heuchlerisch.
STANDARD: Was müsste denn getan werden?
Nobre: Nur Kritik und Solidarität bringen uns nicht weiter. Wir brauchen eine massive Aufforstung. Und das ist keine Utopie. China zum Beispiel hat in den vergangenen 25 Jahren 800.000 Quadratkilometer wiederaufgeforstet. Das entspricht in etwa der Fläche, die in Brasilien in den vergangenen 40 Jahren abgeholzt wurde. Dafür aber müssen wir die Abholzlobby von der Macht verjagen. Und das geht nur mit massiver Unterstützung der Bevölkerung, indem sie Umweltschutz von den Politikern einfordert und keine Abholzer mehr wählt. Und der Rest der Welt muss aufhören, Soja, Rindfleisch und Edelhölzer zu konsumieren, für die der Regenwald abgeholzt wurde. (Sandra Weiss, 23.8.2019)
Das Interview ist Bestandteil eines Multimedia-Projekts von Sandra Weiss und Florian Kopp. Mehr dazu auf…