Dies & Das: „Putin ist nicht mehr Herr der Lage“

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Krieg in der Ukraine                                                 

"Putin ist nicht mehr Herr der Lage"

Der Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski über die begrenzten Optionen Putins und die verstörende Logik der Gewalt.

Kreml-Chef Wladimir Putin (Mitte), Sergej Schoigu (l.), der Minister für Verteidigung, und Generalstabschef Waleri Gerassimow (r.) bei einer Übung im Jahr 2018. © afp / Alexey Nikolsky

„Wiener Zeitung“: In Ihrem Buch „Der bedrohte Leviathan“ beschäftigen Sie sich nicht nur mit der Russischen Revolution, sondern auch mit dem berühmten Satz des umstrittenen Denkers Carl Schmitt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Nun war Wladimir Putin in dieser Hinsicht lange souverän. Mit dem Krieg gegen die Ukraine hat sich die Lage geändert. Ist Putin noch souverän, ist er noch Herr der Lage?

Jörg Baberowski: Putin ist schon längst nicht mehr Herr der Lage. Er hat die Widerstandsfähigkeit der Ukrainer unterschätzt und offenbar geglaubt, dass die Unterwerfung der Ukraine ein Spaziergang sein, die Bevölkerung ihn mit offenen Armen empfangen würde. Das ist nicht geschehen. Vielmehr ist die Blitzkriegsstrategie gescheitert, und die europäischen Länder haben sich vorerst nicht gegeneinander ausspielen lassen. Für Putin ist das eine Katastrophe. Die Souveränität über den Ausnahmezustand wird er im Grunde nur aufrechterhalten können, wenn er diesen Krieg weiterführt, wenn er die Bedingungen diktiert. Das ist auch der Grund, warum der Feldzug mit unverminderter Brutalität und Gewalt fortgesetzt wird. Putin hat keine andere Wahl, als weiterzumachen, weil er sonst am Ende wäre. Er wird so lange an der Eskalationsschraube drehen, bis ihm Angebote unterbreitet werden. Militärisch ist dieser Krieg verloren, aber er könnte sich für Putin in einen Sieg verwandeln, wenn er am Ende noch Bedingungen stellen könnte, unter denen er bereit wäre, ihn zu beenden.

Warum gibt es eigentlich keinen Weg zurück mehr für Putin? Theoretisch könnte er ja nachgeben.

"Putins Gefolgsleute verstehen, dass ein Sturz des Kreml-Chefs auch ihr Ende wäre."

Wer an der Wand steht, kann nicht zurück. Das wissen auch sein Außenminister Sergej Lawrow und sein Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Sie verstehen, dass es auch ihr Ende wäre, sollte Putin stürzen. Dieses Wissen um den eigenen Untergang hält die Clique zusammen, die Putin stützt. So absurd es klingen mag: Je monströser die Gewalt, die Putin ausübt, desto größer ist seine Chance, doch noch ohne Macht- und Prestigeverlust aus der Katastrophe herauszukommen. Je grauenhafter die Bilder und je furchtbarer die Zerstörung, desto mehr wird die Bereitschaft wachsen, ihm ein Angebot zu machen, das er nicht ablehnen kann. Hinter der Brutalität des Krieges verbirgt sich eine zynische Logik.

Sollte Putin in Russland stürzen, was kommt danach? Gibt es dann nicht die Chance auf einen prowestlichen Kurswechsel? Was könnte passieren?

Es kommt ganz darauf an, wie sich dieser Umsturz vollzieht. Ich halte es für ausgeschlossen, dass es einen Aufstand aus den Reihen der Bevölkerung geben wird. Es gibt in Russland keine Zivilgesellschaft, die imstande wäre, sich zu organisieren, um das Regime zu stürzen. Ein mögliches Szenario wäre allenfalls ein Putsch aus den Reihen des Geheimdienstes oder des Militärs. Das aber wird nur geschehen, wenn der Untergang unvermeidbar sein sollte, die Gefolgsleute sich in Sicherheit bringen wollen. Das wäre wahrscheinlich die unblutigste Lösung: eine autoritäre Interimsregierung, die Russland aus dem Krieg herausführen und wieder stabilisieren könnte. Es ist aber natürlich auch möglich, dass Putin gestürzt wird und Diadochenkämpfe ausbrechen, die das Land in Chaos und Anarchie stürzen. Das kann auch im Westen niemand wollen. Deshalb hängt jetzt so viel davon ab, wie dieser Krieg endet.

 

Ob Russlands Außenminister Sergej Lawrow (im Bild) mit der Entscheidung von Kreml-Chef Wladimir Putin zufrieden war, ist schwer einzuschätzen. - © APAweb / afp, Russian Foreign Ministry

Und ein Wechsel in Richtung Demokratie?

Ich fürchte, dass man sich im Westen täuscht. In demokratischen Wahlen würden nicht die liberalen Kräfte triumphieren, eher wohl die Kommunisten und Neofaschisten. Russland ist nicht Moskau.

Das heißt es würde eine Art Wladimir Schirinowski an die Macht kommen, jemand, der schlimmer ist als Putin?

Wir wissen es nicht, aber es ist zu erwarten, dass die Regierung, die Putin folgen wird, nicht weniger autoritär wäre. Mit dieser Realität sollte man sich jetzt schon vertraut machen. Es geht jetzt nicht um den Sieg der Demokratie über die Diktatur, sondern darum, dem Krieg ein Ende zu setzen. Wir können nur hoffen, dass es im Kreml noch verantwortungsvolle Entscheidungsträger gibt, Personen, die einen Weg finden werden, diesen Krieg zu beenden, ohne Russland zu destabilisieren.

Ist das überhaupt noch möglich? Kann man diesen Kampf noch begrenzen?

Das ist schwer zu beantworten. Einerseits hört man, dass die Kampfmoral der russischen Soldaten nicht sonderlich hoch ist. Viele Soldaten sind offenbar Wehrpflichtige, die man Dienstverpflichtungen hat unterschreiben lassen und denen man gesagt hat, sie zögen in ein Manöver. Stattdessen fanden sie sich in einem Krieg wieder, auf den sie nicht vorbereitet waren. Motivation, Kampfmoral und Einsatzbereitschaft dieser Soldaten sind gering. Wenn es nun zum Häuserkampf kommt und zu schrecklichen Verwüstungen, ist es zweifellos denkbar, dass russische Soldaten in großer Zahl desertieren. Welchen Grund sollten sie haben, auf Menschen zu schießen, die leben wie sie selbst und die die gleiche Sprache sprechen wie sie selbst? Putin setzt nun tschetschenische Söldner ein, die für ihre Brutalität bekannt sind. Das ist nicht nur furchtbar, sondern diskreditiert auch sein Ziel, die Ukraine für sein imperiales Projekt zu gewinnen. Es geht offenbar nur noch darum, Furcht und Schrecken um jeden Preis zu verbreiten.

 

Der Widerstand der Ukrainer ist groß: Zerstörte russische Panzer bei Bucha westlich von Kiew. - © APAweb / afp, Aris Messinis

Sowohl Russland als auch die Ukraine haben in ihrer Geschichte extreme Gewalterfahrungen durchgemacht. Die Sowjetunion war ein durchmilitarisierter Staat. Inwieweit denken Putin und seine Geheimdienstumgebung in Kategorien der Gewalt?

Ich glaube, dass Putin und seine Gefolgsleute Gewalt rational einsetzen. Für sie ist Gewalt eine Ressource, derer man sich zu Machtzwecken jederzeit bedienen kann, ein Instrument, um politische Ziele zu erreichen. Und weil es bisher stets gelungen ist, sich mit Gewalt durchzusetzen, wollte Putin davon auch jetzt nicht lassen. Nun aber hat er sich verkalkuliert, seine Drohungen verfangen nicht mehr, weil er sein Spiel ausgereizt und alle Karten offen auf den Tisch gelegt hat. Jetzt sind die Regierungen in den Ländern des Westens aus ihren rosaroten Träumen aufgewacht, und sie haben erkennen müssen, dass Gewalt immer eine Option sein kann und man gut beraten ist, für den Ernstfall gerüstet zu sein.

"Man kann gar nicht vom Frieden reden, ohne den Krieg im Blick zu haben."

In Ihrem Buch „Räume der Gewalt“ findet sich ein Satz, der viele überraschen, vielleicht auch verstören wird: „Friede und Sicherheit gibt es nur, weil Menschen töten können.“ Wie ist dieser Satz gemeint?

Der Begriff des Friedens und der Sicherheit setzt sein Gegenteil voraus. Wenn wir vom Frieden reden, dann doch nur, weil wir wissen, dass es den Krieg gibt. Insofern ist das ein Spiegelverhältnis. Man kann gar nicht vom Frieden reden, ohne den Krieg im Blick zu haben. Und man kann nicht von Sicherheit reden, ohne sein Gegenteil, nämlich Unordnung und Chaos, im Blick zu haben. Der Frieden ist das Gegenteil des Krieges, das eine kann es ohne das andere gar nicht geben.

Ist so gesehen ein Leben ohne Gewalt überhaupt vorstellbar? Oder ist der Mensch dem Menschen ein Wolf, wie Thomas Hobbes schrieb?

Ich glaube, dass Hobbes in dieser Frage missverstanden wird. Er hat ja nicht gesagt, dass der Mensch unter allen Umständen dem Menschen ein Wolf ist. Vielmehr hat er doch wohl gemeint, dass der Mensch Wolf sein kann, nicht muss, und dass aus diesem Wissen der möglichen Bedrohung der Staat entstanden ist. Die Menschen haben die Schlichtung ihrer Konflikte dem Staat übertragen, einen Teil ihrer Freiheit aufgegeben, weil sie dafür Sicherheit bekamen. Und weil der Mensch weiß, dass der andere ihn jederzeit töten könnte, umgibt er sich seit seiner frühesten Geschichte mit Mauern, Burgen, Zäunen und Schlössern und stattet sich mit Waffen aus. Das bedeutet aber nicht, dass Menschen zur Empathie nicht fähig wären. Menschen sind gesellige Wesen, verbinden sich mit anderen Menschen, bilden Gemeinschaften, halten Frieden – auch nach beispiellos blutigen Kriegen.

 

Flüchtlinge warten im Bahnhofsgebäude von Lemberg auf einen Zug Richtung Polen. - © APAweb / afp, Daniel Leal

Eine Sache, bei der man sich fragt: Wie ist das möglich? Wie kann nach Gewaltorgien Normalität einkehren?

Letztlich durch Vergessen. In der Frühen Neuzeit gab es in den Friedensverträgen stets die Klausel, dass über die Verbrechen des Krieges der Mantel des Schweigens gelegt werden solle. Sieger und Verlierer treffen eine stillschweigende Übereinkunft, das Geschehene zu vergessen. Man muss auch nach dem Krieg miteinander leben können. Dennoch sind wir nie davor gefeit, dass das Schlachten wieder beginnen kann. Warum sonst haben alle Staaten Polizisten, Soldaten, Mauern und Waffen? Wir leben im Frieden, aber wir haben uns den Frieden durch all die Sicherungsmechanismen erkauft, die uns umgeben. Wir haben nur vergessen, dass der Frieden jederzeit erzwungen werden muss, wenn er infrage gestellt wird. In diesen Tagen des Krieges kommt nun auch uns zu Bewusstsein, dass ein Einziger durch eine Entscheidung den Weltenlauf verändern kann. Die Gewalt ist eine Möglichkeit, die im Menschen steckt, eine Ressource für jedermann. Man muss nicht töten, aber man kann es. Die Gewalt als Möglichkeit kommt daher, dass wir uns jede Grausamkeit vorstellen können. Und was man sich vorstellt, das muss nicht, kann aber Wirklichkeit werden.

 
 

Jörg Baberowski gilt als einer der bedeutendsten deutschen Historiker und Gewaltforscher. Der Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin hat sich spezialisiert auf die Geschichte der Sowjetunion und des stalinistischen Terrors. privat – © Guido Werner

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