Dies & Das: Der Klimawandel lässt den Permafrost schwinden. Das krempelt die Landschaft um – nicht nur in den Alpen

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Der Klimawandel lässt den Permafrost schwinden. Das krempelt die Landschaft um – nicht nur in den Alpen

Im Gebiet rund um den Spitzen Stein bei Kandersteg bewegt sich das Gestein, und es drohen Felsstürze.

Der Spitze Stein, eine Felsnase oberhalb von Kandersteg im Kanton Bern, droht zu zerbrechen. 20 Millionen Kubikmeter Gestein seien in dem Gebiet in Bewegung, sagt Nils Hählen, der Leiter der Abteilung Naturgefahren im Kanton Bern. Kleinere Rutschungen seien am Spitzen Stein ebenso möglich wie Felsstürze und grosse Bergstürze.

Einer der Faktoren, die als Ursache infrage kommen, ist der schwindende Permafrost. Oberhalb von 2600 Metern Höhe sind die Klüfte des Gesteins noch mit Eis gefüllt. Sobald es geschmolzen ist, kann Wasser eindringen, eventuell eine Schwächezone erreichen – zum Beispiel eine schräge Grenzfläche zwischen zwei Gesteinsschichten – und so das Gestein ins Rutschen bringen.

Bohrungen in steilem Gelände

Wie gravierend, wie verbreitet ist dieses Problem? Antworten können Forscher geben, die seit vielen Jahren verfolgen, wie der Permafrost im Hochgebirge auftaut. Seit 2000 werden die Veränderungen in den Schweizer Alpen vom Permafrost-Überwachungs-Netzwerk «Permos» beobachtet. Eine wichtige Messstation wurde aber schon 1988 unterhalb des Piz Corvatsch im Engadin eingerichtet. In zwanzig Metern Tiefe ist die Temperatur dort um mehr als ein halbes Grad Celsius gestiegen. In zehn Metern Tiefe kletterte die Temperatur sogar doppelt so rasch: von minus zwei auf minus ein Grad. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis null Grad erreicht wird.

Die Messreihe vom Corvatsch sei weltweit die längste im Hochgebirge, sagt Marcia Phillips vom Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos, das ein Drittel der Permos-Bohrloch-Messungen betreut. An vielen anderen Orten begannen die Messungen zehn bis zwanzig Jahre später – sie haben den Erwärmungstrend bestätigt. In den gesamten Schweizer Alpen verfügt das Permos-Netzwerk derzeit über nur 15 Standorte mit 30 Bohrlöchern. «Wir brauchen mehr Bohrungen im Fels», sagt Phillips mit Nachdruck.

Fachleute rechnen damit, dass im Zuge des Klimawandels ein Teil der Hochalpen destabilisiert werden könnte. Je weiter die Erwärmung ins Gestein vordringt, desto öfters bröckelt der Fels. In Zukunft ist deshalb häufiger mit Muren zu rechnen. Die heissen Sommer der letzten Jahre haben bereits einen Vorgeschmack gegeben.

Eine Frage des Eisgehalts

In welchen Gebieten der Schweizer Alpen Permafrost auftritt, haben die SLF-Mitarbeiter in einer Karte festgehalten. Wenig überraschend sind viele felsige Areale rings um die höchsten Gipfel ständig gefroren. Diesen «trockenen Permafrost» findet man regelmässig an Nordhängen oberhalb von 2400 Metern Höhe. Weil das Gestein nur wenig Eis enthält, taut er bei Erwärmung schnell auf. In die Spalten dringt Wasser ein. Der Wasserdruck vergrössert die Spalten – auf diese Weise beschleunigt sich die Erosion selbst.

Näher an der Zivilisation ist eine andere Form von Permafrost: «Blockgletscher» sind in tieferen Lagen als die trockene Variante anzutreffen – oft am Fuss von Hängen, wo sich Ablagerungen von Lawinen und Felsstürzen sammeln. Blockgletscher sind gar keine Gletscher im eigentlichen Sinne, sondern mit Eis durchmischte Schutthalden. Sie tauen wesentlich langsamer auf als der trockene Permafrost, denn beim Schmelzen von Eis werden sehr grosse Mengen an Energie verbraucht. Blockgletscher haben eben einen viel höheren Eisgehalt. Mit dem Auftauen steigt ihre Kriechgeschwindigkeit. In der Folge nimmt das Risiko von Muren zu. Mancherorts ist auch die Stabilität von Bergbahnanlagen bedroht.

Ein Blockgletscher oberhalb von Lenzerheide. Wenn der Permafrost taut, beginnen die Schuttmassen zu fliessen, die durch das Eis zusammengehalten werden.

Wenn die Tundra auftaut

Der Permafrost schwindet nicht nur in den Alpen. Auch in den unendlichen flachen Landschaften des hohen Nordens setzt ihm der Klimawandel zu. Noch besitzt ein Viertel der Landoberfläche auf der Nordhalbkugel – das sind 14 bis 16 Millionen Quadratkilometer – einen permanent gefrorenen Boden. Diese Fläche ist eineinhalb Mal so gross wie die von Europa.

Die grössten Permafrostregionen liegen in Russland und Kanada

Quelle: Obu et al., 2019
NZZ
/ joe.

Doch die gefrorenen Böden tauen in der Tundra immer häufiger auf. Forscher können das anhand von Temperaturmessungen gut dokumentieren: Der Permafrost in den Weiten von Alaska, Kanada und Sibirien werde seit ungefähr 70 Jahren mithilfe von Bohrlöchern überwacht, berichtet Vladimir Romanovsky von der University of Alaska Fairbanks.

Lange Zeit waren wissenschaftliche Projekte zum Permafrost in der Tundra schlecht vernetzt. Doch mit dem vierten «Internationalen Polarjahr» 2007/2008 änderte sich das: Experten aus aller Welt koordinierten ihre Messungen besser, und es gab neue Finanzierungsquellen. Dauerhaft gesichert sei die öffentliche Unterstützung für den Unterhalt der Bohrlöcher aber häufig auch heute noch nicht, sagt Romanovsky.

Einblick in die Klimageschichte

Die meisten Bohrungen sind nur wenige Meter tief. Einige wenige reichen aber 100 Meter und mehr hinab. Das Tiefenprofil der Messdaten aus solchen Löchern enthüllt die Klimageschichte der Region. Temperaturveränderungen an der Oberfläche – ganz gleich, ob Abkühlung oder Erwärmung – dringen im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte immer tiefer in den Boden ein. Die niedrigsten Temperaturen werden heute oft in mittleren Schichten gemessen, in zig Metern Tiefe. Dort ist die Kälte «gespeichert», die in früheren Jahrhunderten an der Oberfläche herrschte. Noch weiter unten macht sich dann die Wärme bemerkbar, die kontinuierlich aus dem Erdinneren aufsteigt.

In der arktischen Tundra sind die durchschnittlichen Lufttemperaturen in den letzten hundert Jahren um zwei bis drei Grad Celsius gestiegen. Die Erwärmung dringt in die Böden ein, und das hat heute schon weitreichende Folgen. Das Tauen des Permafrosts formt die Landschaft grundlegend um. «Thermokarst» nennen das die Forscher: Es entstehen neue Tümpel und Seen, die den Prozess des Auftauens beschleunigen.

Schäden an der Infrastruktur

«In der Arktis leben fünf Millionen Menschen auf Permafrost-Böden», sagt Romanovsky. Für sie bedeutet das grosse Tauen einen fundamentalen Wandel ihrer Umwelt. Ob Wohnhäuser, die schief stehen, Strassen, die Risse bekommen, Schienen, die sich verformen oder Flughäfen und Industrieanlagen, die unbrauchbar werden: Vielerorts richten Bodenabsenkungen erhebliche Schäden an.

Teilweise wird durch das Auftauen des Permafrosts das Wasser von Flüssen, aus denen Dörfer ihr Süsswasser beziehen, mit Schwermetallen verschmutzt. So gerät dort auch die Wasserversorgung in Gefahr. Manchmal entleerten sich durch die vom Tauen ausgelöste Erosion ganze Seen, erzählt Romanovsky.

Thermokarst- Seen im National Petroleum Reserve in Alaska, Alaska. Die Tümpel bilden sich, wenn der gefrorene Boden auftaut.
Wenn der Permafrost taut, beginnt das Erdreich zu erodieren. Die Folgen zeigen sich zum Beispiel in Shishmaref, einem kleinen Dorf in Alaska.

Die Gefahr von Rückkopplungen

Klimaforscher befürchten, dass es im Anschluss an das Auftauen des Permafrosts zu einer Selbstverstärkung kommt – einer «positiven Rückkopplung»: Wo die Trockenheit zunimmt, könnten Waldbrände die Erwärmung der Böden noch beschleunigen. Aus den mit Schmelzwasser gefüllten Tümpeln könnten vermehrt die Treibhausgase CO2 und Methan entweichen. Solche Prozesse würden die globale Erwärmung zusätzlich anfachen. Doch neuere Studien zeichnen ein differenziertes Bild: Zwar nimmt die Freisetzung von Treibhausgasen zu, aber eine «Methanbombe», wie manche früher dachten, sind die auftauenden Landschaften denn wohl doch nicht.

Wie rasch der Permafrost im Laufe des 21. Jahrhunderts schwinden wird, versuchen Forscher mit Rechenmodellen abzuschätzen. Gemäss einem Spezialbericht des Uno-Klimarats von 2019 könnte die Fläche des Permafrosts auf der Nordhalbkugel bis 2100 auf die Hälfte schrumpfen – selbst dann, wenn man ein Szenario mit moderaten Emissionen von Treibhausgasen voraussetzt.

Szenarien mit Unsicherheiten

Die Ungewissheit sei aber noch sehr gross, sagt Romanovsky. Das liegt einerseits daran, dass man nicht genau weiss, welche Mengen an Treibhausgasen die Menschheit noch freisetzen wird, andererseits an Unsicherheiten in den Klimamodellen. Die Methoden, um die Entwicklung des Permafrosts vorauszuberechnen, sind noch lange nicht so ausgefuchst wie bei den Modellen zur Wettervorhersage. Im Extremfall könnte der grösste Teil der oberflächennahen Permafrostböden in der Tundra auftauen. Im optimistischsten Fall würden die meisten Areale bis 2100 überleben. Nur die südlichsten Randgebiete, wo der Schwund bereits begonnen hat, wären verloren.

Weniger Zweifel gibt es, was die Aussichten für den Permafrost in den Alpen angeht. Dass sie nicht gut sind, zeigen Klimaszenarien, die Forscher im Jahr 2018 für die Schweiz durchgerechnet haben. Selbst bei moderaten Emissionen ist im Jahr 2100 mit bis zu vier Grad Celsius höheren Temperaturen zu rechnen, und die Nullgradgrenze steigt um mehrere hundert Meter. Fachleute rechnen darum in jedem Fall mit einem weiteren Auftauen des Permafrosts im Hochgebirge.

Wenn das Gestein ins Wanken gerät

Wo der Permafrost schwinde, würden vermutlich Felsstürze zunehmen, sagt Phillips. Doch es mangle noch an Daten. Gut dokumentiert seien nur grosse Bergstürze, da gebe es noch keinen Trend. Man sei auf direkte Beobachtungen angewiesen, etwa von Wanderführern, Bergrettern und Hüttenwirten. Nützlich sind auch Messungen des Erdbebendiensts, der heftige Gesteinsbewegungen in seinen Seismogrammen identifizieren kann. «Möglicherweise löst das tiefe Eindringen von Wasser in Gesteinsspalten, das durch Eisverluste ermöglicht wird, bald grössere Ereignisse aus», mutmasst Phillips. Wanderer sollten Augen und Ohren offen halten – gerade im Sommer.

Taut der Permafrost, steigt die Gefahr von Felsstürzen. Gesperrter Wanderweg oberhalb der Bettmeralp im Wallis.
Anthony Anex / Keystone

Hoch oben am Spitzen Stein bei Kandersteg liegt Anfang Mai noch Schnee. Messungen zufolge bewegt sich das Gestein weniger als ein Zentimeter pro Tag. Das ist nicht viel. Trotzdem bleibt das Gebiet darunter zur Sicherheit gesperrt. Abstürze könnten das ganze Jahr über auftreten, warnt Hählen – auch im Winter. Eine direkte Gefahr für die Gemeinde bestehe zwar nicht. Doch wenn ein Bergsturz komme und es danach kräftig regne, könnten Murgänge entstehen, die bis nach Kandersteg vordringen würden.


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