Fällt die politische Mitte auseinander?

Betriebswirt Josef Redl schreibt in seinem Gastkommentar darüber, wo sich die politische Mitte noch verorten lässt – und wo nicht.

Lehnt man sich ein wenig zurück und schaut sich das, was derzeit politisch-klimatisch gerade läuft, aus der Vogelperspektive an, kommt man fast zwangsläufig zu dem Ergebnis, dass offenbar nur mehr wenig geht. Vieles ruckelt in der Regierungskoalition nur noch, manches stockt, das Klima zwischen den beiden Partnern fühlt sich eher frostig an, der Finanzausgleich drängt zwar, aber wichtige Leuchtturmprojekte scheinen bereits völlig festgefahren zu sein.

Nur die Diskussion darüber, gegenüber nicht „normal denkenden Menschen“ künftig mehr Kante zu zeigen, blüht. Und treibt dabei so seltsame Blüten – normal kämpft je nach Sichtweise gegen abnormal oder radikal –, dass selbst der Bundespräsident vom Hickhack in dieser Frage nicht verschont bleibt.

Klar, es kam zuletzt knüppeldick daher, erst die Pandemie, dann der Krieg in der Ukraine mit Folgen wie der Energiekrise und der Inflation, von der Erderhitzung gar nicht zu reden. Ist es derzeit also nur deshalb so schlimm, weil das alles in kurzer Zeit mit voller Wucht auf uns hereingebrochen ist? Mitnichten: Das alles traf uns nur deshalb so stark, weil der hausgemachte Mist – Stichworte wie Ibiza, Chats und Korruptionssumpf genügen (es gilt natürlich die Unschuldsvermutung!) – erst scheibchenweise an die Öffentlichkeit kam und daher immer noch meilenweit davon entfernt ist, beseitigt zu sein. Weder rechtlich noch ethisch-moralisch. Hauptsächlich geschuldet einer ÖVP, allen voran deren Landeshauptleuten, die auch Jahre nach Ibiza nicht zugeben kann, einem vermeintlichen Messias willfährig nachgelaufen zu sein. Und die es nach der Bruchlandung klar verabsäumt hat, eine wie auch immer geartete Selbstfindung wenigstens zu versuchen.

Politik Mitte Gesellschaft

Rechts wie links kann man Wahlerfolge verbuchen. Was ist mit der Mitte los? Getty Images/iStockphoto

Dass der SPÖ, der zweiten ehemals staatstragenden Partei, parallel dazu das Kunststück einer noch nie dagewesenen Selbstzerfleischung gelang, hat auch nicht gerade dazu beigetragen, Österreich nach der Erschütterung durch Ibiza in seinem Kern zu stabilisieren. Vermutlich ist es daher nur folgerichtig, dass ausgerechnet jene Partei wieder zu einem Höhenflug angesetzt hat, von der mit dem Ibiza-Video alles ausging: die FPÖ. Und wir nun plötzlich wie gebannt vor dem Schreckgespenst eines Herbert Kickl als österreichischer „Volkskanzler“ stehen. Sind wir denn überhaupt nicht klüger geworden?

Die Folgen dieser unseligen Mixtur aus externen Schocks und internen Versäumnissen sind mehr als bekannt: ein großer Vertrauensverlust in die politischen Parteien, ein Überhandnehmen populistischer Strömungen, eine erschreckende Offenheit gegenüber Verschwörungstheorien und ein Auseinanderdriften der Gesellschaft bis hin zu einer möglichen Gefahr für unsere bewährte liberale Demokratie.

Eher Folge als Ursache dieser Entwicklungen ist die zunehmende Erosion der für eine Gesellschaft wichtigen, weil meinungsbildenden politischen Mitte. Beweis für deren Zerbröseln sind nicht nur die anhaltend guten Umfragewerte der FPÖ, sondern zum Beispiel auch die Wahlerfolge der kommunistischen Partei in Graz und Salzburg. Die Mitte dünnt also aus, und die Ränder legen politisch zu.

Wenig einheitlich

Wobei, wie die Ergebnisse einer aktuellen Studie des Marktforschungsinstituts Integral auf Basis zehn sogenannter Sinus-Milieus eindrucksvoll zeigen, eine mehr oder weniger einheitliche gesellschaftliche Mitte jetzt weniger denn je existiert. Integral unterteilt nämlich mittlerweile vielmehr bereits in zwei, in ihren Werthaltungen deutlich unterschiedliche, Milieus der Mitte: das Milieu der „Nostalgisch-Bürgerlichen“ (Leitmotiv „Früher gab es noch Ordnung und Anstand“) und jenes der „Adaptiv-Pragmatischen“ (Leitmotiv „Gut geplante Schritte statt größer Sprünge“). Das ist nicht nur sozialpsychologisch äußerst interessant, sondern bedeutet auch jede Menge Sprengstoff für das kommende Wahljahr!

Während Integral nämlich davon ausgeht, dass das sich von den Eliten missachtet fühlende und daher systemkritisch gewordene nostalgisch-bürgerliche Milieu politisch ohnehin schon nach rechts abgebogen ist, schwanken die Adaptiv-Pragmatischen als „Zünglein an der Waage“ noch, wohin sie sich politisch wenden wollen. Sie lehnen Extreme ab und wollen in der politischen Mitte bleiben, sodass es vermutlich von den politischen Inhalten abhängen wird, die ihnen angeboten werden. Dazu sagt Bertram Barth, Geschäftsführer von Integral: „Jene Politikerinnen und Politiker, welche die ‚Normalität‘ betonen, haben vor allem die alte, ressentimentgeladene, systemkritische Mitte im Sinn. Sich allzu sehr auf diesen Teil der Mitte zu konzentrieren heißt aber automatisch, die etwas größere moderne, flexible Mitte, die keine rigide Vorstellung von Normalität hat und für Zukunftsfragen offen ist, zu vernachlässigen.“

Fazit: So paradox es also bei dem Bild, das die ÖVP derzeit abgibt, scheint: Es wird bei der nächsten Wahl vermutlich trotzdem wieder auf sie ankommen! Einfach deshalb, weil sie aus heutiger Sicht vermutlich wieder die meisten Koalitionsoptionen haben wird. Wird es mit ihr entweder noch weiter nach rechts gehen als je zuvor: nämlich wider besseres Wissen wieder in eine Koalition mit den Freiheitlichen und im schlimmsten Fall sogar als Juniorpartner der FPÖ? Oder wird sich die ÖVP doch wieder besinnen, staatspolitische Verantwortung übernehmen und stärker in die Mitte rücken, wo sie zusammen mit der SPÖ über Jahrzehnte nicht ohne Erfolg tätig war?

Derzeit ist eher zu befürchten, dass sich der schwarze Blick auf die politische Mitte noch weiter verengen könnte, bis eines Tages – bewusst zugespitzt – vielleicht nur mehr jene Charaktere als Normalbürger übrig bleiben, die Manfred Deix seinerzeit so unnachahmlich, wie nur er es konnte, zu Papier gebracht hat. (Josef Redl, 30.7.2023)

Josef Redl ist Betriebswirt und hat sein Berufsleben mit den Schwerpunkten Marketing und Vertrieb im Bank- und Versicherungsbereich verbracht. Danach war er lange ehrenamtlich im Finanzbereich tätig.

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