Dies & Das: Biodiversität – Ammenpflanzen

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Kurt de Swaaf

01.04.2021

Manche Pflanzen «bemuttern» ganze Artengemeinschaften. Sie können zentrale Rollen bei der Förderung der Biodiversität spielen

Sogenannte Ammenpflanzen bereiten Lebensräume für andere Arten auf: vom passenden Mikroklima bis hin zur Bereitstellung von Wasser und Nährstoffen. Von ihrem gezielten Einsatz profitiert nicht nur der Naturschutz.

Der Desierto de Tabernas im Osten Andalusiens gilt als Europas trockenste Ecke. Verödet ist die Halbwüste gleichwohl nicht – im Gegenteil. Vor allem im Frühling blühen hier zahlreiche Pflanzen, die Scharen von Insekten ernähren. Behütet wird diese Vielfalt an vielen Stellen von einer einzigen Spezies: einem gelben mediterranen Ginster mit dem wissenschaftlichen Namen Retama sphaerocarpa. Die ausladenden, bis zu drei Meter hohen Büsche schützen kleinere Gewächse vor der brennenden südspanischen Sonne und dem oft ausdörrenden Wind. In ihrem Schatten entsteht ein milderes, wachstumsförderndes Mikroklima, in dem mitunter rund vierzig verschiedene Pflanzenarten gedeihen, wie der Ökologe Christian Schöb berichtet: «Sehr divers und sehr schön.»

Schöb, der an der ETH Zürich forscht, untersucht das Phänomen schon seit mehreren Jahren. «Der Ginster ist eine typische Ammenpflanze», erklärt er. Die fürsorglichen Gewächse beeinflussen nicht nur die lokalen Umweltbedingungen, sondern beliefern ihre Schützlinge auch mit Wasser und Nährstoffen – inklusive lebensnotwendiger Stickstoffverbindungen. Letzteres gelingt gerade dem mediterranen Ginster recht mühelos. Die Art gehört nämlich zu den Leguminosen, zur selben Familie wie Erbsen und Bohnen. Deren Angehörige beherbergen an ihren Wurzeln Kolonien von Rhizobium-Bakterien, mit denen sie in Symbiose leben. Für die Pflanzen hat diese Liaison enorme Vorteile. Die winzigen Untermieter wandeln Luftstickstoff in biologisch verwertbare Form um und düngen so ihre Wirte. Sogar die Nachbarn bekommen ihren Teil.

Der mediterrane Ginster Retama sphaerocarpa ermöglicht einer ganzen Reihe anderer Pflanzenarten das Überleben.
Imago

Wasser und Dünger

Die Zufuhr von Wasser sichert Retama über ihre bis zu sieben Meter tief greifenden Wurzeln. Tagsüber verdunstet ein Teil davon über die Spaltöffnungen in den Blättern, über welche die Pflanze auch atmet. Nachts schliesst sie diese. Der Wasserdruck wird allerdings aufrechterhalten. Das aufsteigende Wasser wird nun – statt über die Blätter in die Luft – über die oberen Wurzeln zurück ins Erdreich abgegeben. Dieses abgegebene Bodenwasser enthält zudem jede Menge mineralische Nährstoffe, die in der Tiefe oft in grösseren Mengen verfügbar sind als in den obersten Bodenschichten.Dank den Wasser- und Nährstoffgaben entstünden rund um die Ginsterbüsche regelrechte «Fruchtbarkeitsinseln», sagt Schöb.

Bei anderen Arten von Ammenpflanzen scheiden die Wurzeln auch organische Säuren aus. Diese lösen in der Erde gebundenen Phosphor, was ebenfalls eine Düngung bewirkt: Biologisch verfügbarer Phosphor ist vielerorts knapp und häufig der limitierende Faktor für Pflanzenwuchs.

Im Hochgebirge wird die Ammenrolle oft von Polsterpflanzen übernommen. Als prominentes Beispiel aus den Alpen nennt Schöb das Stengellose Leimkraut (Silene acaulis), dessen Zuchtvarianten auch in Gärten gedeihen. Die dichten, manchmal über zwei Meter breiten Wuchskissen dieser Art speichern wie ein Schwamm Feuchtigkeit und binden gleichzeitig organisches Material. Einiges davon trage der Wind herbei, erklärt Schöb. Letztlich entsteht hieraus Humus. Leimkraut-Polster bieten diversen kleineren Gewächsen und allerlei wirbellosem Getier Unterschlupf. Schwedische Forscher fanden in ihnen 35 verschiedene Pflanzenarten; fünf dieser Spezies traten ausschliesslich in den Kissen auf. Verschwände das Stengellose Leimkraut, dürften sie aussterben.

Mehr Nachwuchs dank Ammen

Dass Ammenpflanzen sogar den Fortpflanzungserfolg ihrer Protégés mehren können, zeigt eine neue Studie von Schöb und seinen Kollegen. Die Wissenschafter analysierten das Zusammenspiel des mediterranen Ginsters mit einigen seiner Schützlinge und den sie bestäubenden Insekten in der Extremadura südwestlich von Madrid. In einer experimentellen Anordnung stellte das Team einzelnen Ginsterbüschen während der Blütezeit eine oder drei verschiedene Begleitarten zur Seite. Für Kontrollversuche blieben der Ginster und die anderen Pflanzen jeweils alleine beziehungsweise unter sich. Anschliessend wurde jeder Blütenbesucher genau erfasst. Das Ergebnis: Sowohl die Präsenz einer Amme wie auch die Gesamtzahl der anwesenden Pflanzenarten erhöhen die Bestäubungsaktivität.

Je mehr blühende Biodiversität, desto mehr Insekten – das überrascht nicht wirklich. Die statistische Auswertung deutet allerdings darauf hin, dass der Ginster dies zusätzlich verstärkt. Das Ganze ist offenbar mehr als nur die Summe seiner Teile. Im Schutz einer blühenden Amme verbesserte sich auch der Bestäubungserfolg von Pflanzen, die auf spezialisierte Insekten angewiesen sind. Schöb vermutet dahinter einen sogenannten Clustereffekt: Die üppige gelbe Blütenpracht des Ginsters könnte zusammen mit jener seiner Schützlinge demnach wie eine Art Werbetafel fungieren, welche Bienen und Co. signalisiert: Hier gibt es für alle etwas zu holen.

Die gelben Blüten des Ginsters locken Insekten an. Das kommt auch seinen Schützlingen entgegen.
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Schöb und seine Kollegen arbeiten inzwischen auch anwendungsorientiert: «Wir versuchen, den Nutzen von Ammenpflanzen in die Landwirtschaft zu übertragen», erklärt der Forscher. Mischkulturen bieten hier gute Möglichkeiten. Mais zum Beispiel gehört zu den phosphorlösenden Arten. Baut man ihn zusammen mit Bohnen und schattenspendenden Kürbispflanzen an, wie es bereits die Maya in Mittelamerika vor Hunderten Jahren taten, profitieren alle drei Feldfrüchte.

Auf dem Gebiet der ökologischen Restaurierung gibt es ebenfalls interessante Entwicklungen. Spanische Experten haben den Einsatz des polsterbildenden Gipskrauts (Gypsophila struthium) mit Erfolg für die Renaturierung von ehemaligen Tagebauminen getestet. Nutzniesser sind dort unter anderem das Süssgras Stipa lagascae und eine nur auf der Iberischen Halbinsel vorkommende Sonnenröschen-Spezies (Helianthemum squamatum). Gemäss einer im vergangenen Jahr publizierten Studie begünstigen in Chile mehrere Arten von Büschen den Nachwuchs der Flusszeder (Pilgerodendron uviferum) und stimulieren so die Wiederherstellung zerstörter Moorwälder. Bisher glaubten viele Fachleute, es sei besser, «Gestrüpp» vor der Pflanzung von jungen Zedern komplett zu entfernen. Nun hat sich das Gegenteil gezeigt. Das weltweite Potenzial von Ammenpflanzen dürfte also noch lange nicht erschöpft sein.