Der Artenschwund soll offiziell erfasst werden
Von Susanne Billig und Petra Geist
Wenn der Raubbau an der Natur weitergeht wie bisher, könnten Insekten in 100 Jahren fast ausgestorben sein. Die Folgen für Mensch und Natur wären dramatisch. Welche Insekten wie stark gefährdet sind – darüber soll jetzt eine Studie Klarheit schaffen.
Es ist ein offenes Geheimnis: Die industrialisierte Landwirtschaft mit ihren riesigen Monokulturen, den schweren landwirtschaftlichen Geräten und dem intensiven Einsatz von Chemikalien tut der wilden Natur und insbesondere den Insekten nicht gut. Professor Johannes Steidle, Zoologe an der Universität Hohenheim, bringt es auf den Punkt:
„Die heutige Agrarlandschaft besteht im Prinzip aus riesigen Äckern, die bis zum Horizont reichen. Und wenn man weiß, dass die meisten Insekten auf ganz bestimmte Pflanzen angewiesen sind, dann ist klar, dass solche Agrarlandschaften für sie genauso wertvoll sind wie ein geteerter Parkplatz beispielsweise.“
Doch wie genau ziehen riesige monotone Äcker, Ackergifte und der Verlust von Lebensräumen die Insektenvielfalt auch in Naturschutzgebieten in Mitleidenschaft? Das möchte das neue Forschungsprojekt „Diversität von Insekten in Naturschutz-Arealen“, kurz DINA, nun wissenschaftlich exakt erfassen. In 21 Naturschutzgebieten, die an landwirtschaftlich genutzte Flächen grenzen, sollen vier Jahre lang standardisierte Insektenfallen stehen.
76 Prozent weniger Gesamtbiomasse an Insekten
In Design und Zielsetzung lehnt sich das neue Großprojekt deutlich an eine Forschungsarbeit an, die im Oktober 2017 Fachwelt und Öffentlichkeit alarmierte: Insektenforscher des Entomologischen Vereins Krefeld – ein Zusammenschluss ausgewiesener Spezialisten – hatten von 1989 bis 2016, also fast dreißig Jahre lang, in gut sechzig deutschen Naturschutzgebieten dasselbe getan: Insektenfallen aufgestellt, Insektenbiomasse gemessen – und einen dramatischen Schwund beobachtet.
„Dabei wurde festgestellt, dass die Menge an Insekten, einfach nur gemessen an ihrem Gewicht, stetig über die Jahre abgenommen hat“, sagt Steidle. „Zu Beginn der Untersuchungen wurden im Hochsommer so zwischen 5 und 20 Gramm Insekten pro Tag in der Falle gefunden und 2016 und kurz davor waren es noch 2 Gramm oder weniger, also eine deutliche Abnahme.“
Die Insektenspezialisten konnten zeigen, dass die Gesamtbiomasse der Fluginsekten in den Naturschutzgebieten Deutschlands von 1989 bis 2014 um 76 Prozent zurückgegangen war. Allein der Bestand an Großschmetterlingen war um 56 Prozent gesunken.
Außerdem möchten sie erfassen, wie sich Landnutzung, Chemikalieneinsatz und die Zerstörung von Insekten-Lebensräumen auf die Bestände auswirken. Wie Bienen mit solchen Einflüssen zurechtkommen, hat Alexandra-Maria Klein, Professorin für Naturschutz und Landschaftsökologie, in Kalifornien untersucht.
Doch hinter der Krefelder Studie stand ein Verein und kein renommiertes Forschungsinstitut. Darum soll das neue Millionenprojekt den Insektenschwund nun mit höchsten wissenschaftlichen Weihen dokumentieren – und tiefer in die Ursachenforschung einsteigen. Die Forscherinnen und Forscher interessieren sich darum nicht nur für die Gesamt-Biomasse der Insekten, sondern möchten mit modernsten genetischen Methoden auch herausfinden, welche Insektenarten noch unterwegs sind.
„Wenn die Monokulturen riesengroß waren und da waren kilometerweit keine Ressource, kein Naturhabitat, nichts anderes für die Bienen – dann gab es da keine einzige Wildbiene. Wir waren da fünf Jahre vor Ort – ich hab keine einzige Wildbiene in diesen Flächen gesehen. Manchmal, wenn man Glück hat, in den biologisch bewirtschafteten oder ökologisch bewirtschafteten, da findet man manchmal noch die eine oder andere Fliege in den Blüten. Aber sonst nichts.“
Ohne Insekten droht der ökologische Kollaps
Weltweit zeigen Studien seit vielen Jahren, dass es um die Insekten immer schlechter steht. Noch im Februar diesen Jahres schockte die erste globale Recherche die gesamte Fachwelt: Ein Team um den australischen Ökologen Francisco Sánchez-Bayo vom Sydney Institute of Agriculture hatte 73 Studien zum Rückgang unterschiedlicher Insektenarten in allen Erdteilen ausgewertet. Das Ergebnis: Fast alle Insektengruppen sind von dem Schwund betroffen.
Etwa die Hälfte aller Insektenarten geht stark zurück, ein Drittel ist vom Aussterben bedroht. Pro Jahr sinkt die Biomasse der Tiere um rasante 2,5 Prozent. Wenn das so weitergeht, schreiben die Australier, sind Insekten in hundert Jahren so gut wie ausgestorben. Mit gravierenden Folgen für die Menschheit, wie Axel Ssymank, Biotop- und Artenschutz-Experte vom Bundesamt für Naturschutz betont:
„Ohne Fliegen keine Schokolade, Kakao wird ausschließlich von Fliegen bestäubt, und es gibt viele andere Sachen, praktisch das gesamte Obst und Gemüse ist insektenbestäubt. Also, wir würden sozusagen mit einem Teller, wo nur noch das trockene Brot drauf liegt, sehr viel an Lebensqualität und auch an Nahrungsqualität einbüßen ohne Insekten.“
Wenn Insekten massenhaft ausfallen, prophezeien Biologen einen großräumigen ökologischen Kollaps, denn ohne Bestäuber sterben Blütenpflanzen aus. Nahrungsketten brechen zusammen. Erst können sich Vögel, dann Säugetiere nicht mehr ernähren. Süßgewässer verlieren ohne Insekten ihre Selbstreinigungskraft. Weil Kot und Aas ohne die Gliedertiere langsamer verrotten, vermehren sich Pilze unkontrolliert auf den massenhaft umherliegenden organischen Abfällen.
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Es geht auch ums Überleben der Menschheit
Wahrscheinlich werden nicht alle Insekten aussterben, sondern manche von dem großen Sterben profitieren – und die land- und forstwirtschaftlichen Flächen als neue Ungezieferplagen heimsuchen. Das Thema berührt also das Überleben der Menschheit. Experten fordern die Politik schon lange auf, entschlossen umzusteuern.
„Die Landwirtschaft muss nachhaltiger werden, das heißt insgesamt dürfen nicht mehr so viel Pestizide verwendet werden, also nicht schon gleich prophylaktisch, sondern tatsächlich nur, wenn Unkräuter oder Schädlinge nicht mehr mechanisch oder anders bekämpft werden können. Es muss weniger Dünger ausgebracht werden. Und ganz wichtig auch: Die Landschaft muss viel strukturreicher werden. Wenn wir bereits in den achtziger Jahren mit einem solchen Monitoring begonnen hätten, wäre es sicher nicht jetzt zu dieser katastrophalen Situation gekommen.“
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