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Thema Gesellschaft & Politik…#19

Coronavirus Simon Rosner Redakteur 13.11.2021 Warum die Lage erneut eskalierte Das Land nähert sich dem Lockdown, vorerst nur für Ungeimpfte und auf Salzburg und Oberösterreich beschränkt. Hat die Politik dieselben Fehler erneut gemacht? Diese reduzierte Darstellung ist unpräzise, denn die Situation ist anders als im Vorjahr. Das Virus ist mutiert und infektiöser, andererseits gibt es mehr Wissen und eine Impfung – aber eben auch altbekannte Schwachstellen. Ein Blick zurück auf das politische Wirken und einige Erklärungsansätze. Impfkampagne mit dem falschen Fokus Die erste Phase des Impfprogramms war geprägt von einem Mangel an Impfstoff. Das war weder überraschend noch auf Österreich beschränkt, dominierte aber Debatte, Berichterstattung und damit auch die Zielsetzung der Politik. Ihr ging es primär darum, möglichst schnell, allen die wollen, eine Impfung anbieten zu können. Zwar gab es, wie in allen Ländern, Priorisierungen bestimmter Bevölkerungsgruppen gemäß epidemiologischer Faktoren, es fehlte jedoch eine Zielvorgabe für Impfquoten in diesen spezifischen Gruppen. Impften sich also weniger Ältere als möglich, konnten sich Jüngere darüber freuen, da sie dadurch früher drankamen. Für die Politik hatte das den angenehmen Effekt, dass der Druck auf sie nachließ. Epidemologisch wirkt dies bis heute ungünstig. Mehr als 250.000 über 60-Jährige sind noch ungeimpft, und diese Zahl ist viel zu hoch, um durch den Winter zu kommen. Schon das „alte“ Virus im Vorjahr hat jeden dritten Infizierten über 70 Jahre und einen von sechs über 60-Jährigen ins Spital gebracht. Die Bundesregierung hätte daher klare Impfziele ausgegeben müssen, heruntergebrochen auf die einzelnen Altersgruppen. Vielleicht hätte man diese Ziele trotzdem nicht erreicht, aber die Bundesländer, die für die Umsetzung zuständig sind, hätten Impflücken frühzeitig erkennen und entsprechend gegensteuern können. Zum Beispiel mit Erinnerungen oder Impf-Terminen per SMS, Brief oder E-Mail. Gute Verwaltung benötigt Zielvorgaben. Stattdessen war die Regierung bestrebt, dem Druck der sehnsüchtig wartenden Ungeimpften zu entkommen (und wollte deshalb sogar bei Putin Impfstoff ordern), die Länder waren mit der Organisation der Impfaktion ausgelastet. Lange fehlten Überlegungen, wie man Zögerende gewinnt. Das kam sehr spät, etwa mit den Impfungen ohne Terminvereinbarung. Wohl zu spät. Die Wissenschaft lieferte, die Politik reagierte kaum Ab dem Sommer wurden einige Modellierungen für den Herbst und Winter veröffentlicht, darunter auch vom Prognosekonsortium des Gesundheitsministeriums. Das waren keine präzisen Vorhersagen, was in dieser oder jener Kalenderwoche passieren wird, sondern mittelfristige Szenarien, die zeigten, was im Herbst oder Winter zu erwarten sein könnte. Solche Modellierungen unterliegen immer Unsicherheiten, aber eine zentrale Aufgabe der Politik in komplexen Krisen ist es, diese Unsicherheiten zu managen. Darin hat die Politik in Österreich versagt. Dabei war die Kernaussage dieser Modelle klar: Mit dieser geringen Impfquote wird es sehr heikel, die Gefahr einer erneuten Überlastung des Gesundheitssystems droht. Einer der wissenschaftlichen Berater berichtet, dass das Verständnis dieser Modelle nicht überall gleichermaßen ausgeprägt war. In Wien, wo die Behörde dank eigenem Statistik-Magistrat ab Sommer selbst Szenarien berechnete, sei es eher ausgeprägt gewesen. „Viele in der Stadtverwaltung haben besser zu verstehen gelernt, wie die Pandemie verläuft“, sagt der Forscher. Wien agierte dann auch vorsichtiger. Zum Teil wurden die Experten aber auch in die parteipolitische Auseinandersetzung gezogen. Im Sommer etwa kritisierten die Neos, dass die Prognosen regelmäßig das Infektionsgeschehen überschätzten. Auch Medien berichteten darüber. Nun ist es umgekehrt: Die Opposition richtet der Regierung mit dem Verweis auf die Experten und ihre Prognosen aus, die Warnungen nicht ernst genommen zu haben. Überraschender September Nicht der November, wie es von Regierenden zuletzt zu vernehmen war, überraschte, sondern die Entwicklung im September, zumindest in der Ausprägung. Denn ab Mitte des Monats nahm die Fallzahl für zwei Wochen ab, in Wien für drei. Dieser Effekt trat auch im Vorjahr auf, jedoch viel schwächer. Und er fand sich auch in einem Modell, in dem diese Sprünge herausgearbeitet waren. Um die Kernbotschaft der Politik klarer vermitteln zu können, wurden diese Schwankungen aber geglättet, wie ein Wissenschafter erzählt. Man wollte die Aufmerksamkeit auf die Essenz lenken, also den heiklen Herbst. Deshalb werden auch in Kurzzeit-Prognosen keine Tagesschwankungen abgebildet, obwohl am Wochenende immer weniger Fälle auftreten. Es geht den Forschern aber um den Trend. Dass die Inzidenz dann im September abfiel, war von den Experten so nicht erwartet worden, sie rechneten mit einer Phase der Stagnation. Das führte zu einer unheilvollen Fehlinterpretation, sowohl in der Politik, wohl aber auch in der Bevölkerung, wonach das Gröbste überstanden sei. Dass die Experten im September danebenlagen, kann auch zum bequemen Argument geworden sein, die warnenden Modelle abzutun. Die Datenlage ist nach wie vor nicht ausreichend Seit Beginn der Pandemie sind das Fehlen wichtiger Daten und die Möglichkeit ihrer Auswertung und Verknüpfung ein Thema. Immerhin hat die Politik mit dem Gesetz zur Registerforschung darauf regiert, für diese Krise kommt das aber zu spät. Nicht alles ist jedoch schlecht, wie etwa das Epidemiologische Meldesystem und der E-Impfpass. Deutschland verfügt nicht darüber. Diese Datenbanken können zudem nach einer Gesetzesänderung nun auch verschränkt werden, wodurch unter anderem Inzidenzen für Geimpfte und Ungeimpfte ausgewiesen werden können. So weiß man, dass die Impfung nicht nur vor schweren Verläufen gut schützt, sondern nach wie vor günstig auf das Infektionsgeschehen wirkt. Die Sieben-Tage-Inzidenz Geimpfter liegt bei 355, jene der Ungeimpften bei 1.430. Dennoch fehlen nach wie vor wichtige Daten in Österreich. Aus dem E-Impfpass ist nur das Alter herauszulesen, andere gesundheitliche Risikofaktoren für eine schwere Covid-Erkrankung (Übergewicht, Vorerkrankungen) oder eine verminderte Impfwirkung (durch bestimmte Medikamente) aber nicht. Das wäre für die Kommunikation und Steuerung der Impfkampagne wichtig gewesen. Und diesem Wissen näherte man sich auch nicht über repräsentative Befragungen an. Eine solche Annäherung wäre auch die Erhebung des Antikörperstatus der Bevölkerung gewesen. Diese Tests lassen zwar nur eine bedingte Aussage über die tatsächliche Immunität zu, sind aber doch wichtige Indikatoren. Die letzte Seroprävalenzstudie datiert aus dem Vorjahr, ein Projekt für eine neue Studie scheiterte im Sommer an Hürden der Umsetzung. So war die Politik auf Modellierungen und Vergleiche mit anderen Ländern, wie etwa der Schweiz, zurückgeworfen. Ein dritter Datenmangel betrifft die Spitalspatienten: Wer liegt mit Covid im Krankenhaus? Mit welchem Risikoprofil? Welchem Impfstatus? Wie lange? Nur teilweise gibt es diese Daten, daher müssen für Prognosen Annahmen getroffen werden, die dann wiederum die Unsicherheiten erhöhen.

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