Blättern in der Chronik

Dies & Das: Die Filmindustrie ersetzt die einbrechende Landwirtschaft – In Jakutien zerstört der Temperaturanstieg die Lebensgrundlagen

Janna Bystrykh 16.01.2021 Die Filmindustrie ersetzt die einbrechende Landwirtschaft: In Jakutien zerstört der Temperaturanstieg die Lebensgrundlagen Die Szenarien der Klimadebatte werden in den Permafrostgebieten Sibiriens bereits Realität: Krater ziehen sich durch Stadt und Land. Aber inmitten der dramatisch sich wandelnden Landschaften entstehen auch Pole des Widerstands. Mitte Februar komme ich in Jakutsk an. Die Trottoirs sind dicht bevölkert, mit –30 Grad Celsius herrscht eine Kälte, die man hier noch als freundlich empfindet. Erst wenn das Thermometer unter –40 Grad fällt, verkriechen sich die Menschen in ihre Häuser. Aufs Smartphone schaut praktisch niemand – die Kälte leert die Batterien im Nu. Die Kühlergitter der Autos sind mit Isolationsmaterial bedeckt, um den Motor zu schützen. Auf dem Fischmarkt ist nichts zu riechen: Der Fang aus dem nahen Fluss, steif gefroren, steckt wie Baguettes in Körben oder wird zu kleinen Haufen geschichtet. Die Sonne strahlt hell, wie man es in diesem trockenen, fast arktischen Klima häufig sieht – bis die Temperatur sinkt und die Stadt sich in den für diese Region typischen, mystischen Eisnebel hüllt. Jakutsk ist die Hauptstadt der zentralsibirischen Teilrepublik Sacha, die zu Sowjetzeiten auch offiziell Jakutien genannt wurde. Flächenmässig fünfmal grösser als Frankreich, beherbergt sie weniger als eine Million Einwohner, die unterschiedlichen Kulturen und Sprachgruppen angehören. Auf den Strassen hört man Jakutisch, Ewenisch und Ewenkisch, aber auch Russisch, die allen gemeinsame Sprache. Die Jakuten stellen mit rund 50 Prozent den grössten Bevölkerungsanteil. Etwa 300 000 Menschen leben in der Hauptstadt; mehrheitlich auf Permafrost erbaut, liegt sie am westlichen Ufer des Flusses Lena. Von Moskau ist Jakutsk einen Nachtflug entfernt, faktisch liegt es aber näher bei Seoul – von dort fliegt man nur vier Stunden, und die beiden Städte befinden sich in derselben Zeitzone. Rasante Erwärmung Die Kälte ist ein ideales Thema, um mit jemandem ins Gespräch zu kommen. Die Einwohner erinnern sich an extreme Kältephasen, in denen –50 Grad gemessen wurden; sie sind spürbar kürzer und seltener geworden. Dafür kann die Temperatur im Sommer 30 Grad und mehr erreichen. Die Durchschnittstemperatur in Jakutsk ist seit den 1970er Jahren um rund 3 Grad Celsius gestiegen. In den polaren und subpolaren Regionen schreitet die Erderwärmung rascher voran als irgendwo sonst. Eine solche Entwicklung sahen die Klimaforscher voraus, allerdings hatten sie das Tempo unterschätzt: In manchen Regionen hat sich die Durchschnittstemperatur bereits um 5 Grad erhöht. Die schnelle Erwärmung führt zur Destabilisierung des gefrorenen Bodens und auch zu mehr Niederschlag, und beides setzt dem Permafrost hart zu. Mit Permafrost bezeichnet man Böden, die während mehr als zweier aufeinanderfolgender Jahre gefroren bleiben, aber ein Grossteil des Permafrosts ist seit Jahrtausenden nie aufgetaut. Sein russischer Name bedeutet «ewiger Frost», die Wissenschaft allerdings verwendet heute häufiger «Mehrjahresfrost». Er bedeckt beinahe ein Viertel des Festlands in der nördlichen Hemisphäre: 50 Prozent von Kanada, 60 Prozent von Russland und 85 Prozent von Alaska. In der Region um Jakutsk zeitigt das Auftauen des Permafrosts besonders drastische Folgen. Ich bin hierhergekommen, um mich über die Forschung vor Ort und die Pläne für Notfallszenarien zu informieren, die derzeit entwickelt werden. Jakutsk ist die inoffizielle Hauptstadt der Permafrostforschung, auch das Melnikow-Permafrost-Institut ist hier beheimatet. Der Boden rebelliert Der Permafrost kann hier bis zu 1500 Meter in die Tiefe reichen. Man nennt ihn Yedoma – dies ist eine bestimmte Art von Permafrost, die sich aus organischer Materie und einem hohen Anteil an Eis zusammensetzt und die demzufolge sehr schnell auftauen kann. Allerdings sagt das schlichte Wort auftauen wenig aus über die Komplexität des invasiven Prozesses, der unter der Erdoberfläche stattfindet und die ganze Topografie zerstören kann. Eher deutet der wissenschaftliche Begriff Thermokarst auf die manchmal schockierenden Veränderungen hin, die das Tauen des Permafrosts nach sich zieht. Der Boden in solchen Regionen bricht ein, sinkt ab, rutscht, bildet Krater oder kleine Hügel; breite Landstriche werden überschwemmt. Böden, Vegetation, Ökosysteme und mit ihnen die Landwirtschaft nehmen dabei Schaden, ebenso Gebäude und Infrastrukturen; ganze Regionen werden unbewohnbar, sind nicht mehr nutzbar oder sogar unzugänglich. Eines der weltweit extremsten Beispiele für eine solche Entwicklung ist der Batagaika-Megaslump, der sich 700 Kilometer nördlich von Jakutsk nahe der Kleinstadt Batagai gebildet hat. Rund 80 Meter tief, hat er derzeit einen Durchmesser von knapp einem Kilometer, aber er wächst ständig und zieht dabei den angrenzenden Wald in seinen Krater. Der Megaslump ist eine wichtige Fundstätte für Paläontologen: Hier forscht etwa das Team des Lazarew-Mammutmuseums, das der Universität in Jakutsk angeschlossen ist. Im Sommer, erzählen die Wissenschafter, könnten sie am Grund des Kraters das tauende Eis im Boden krachen hören. Man nimmt an, dass sich die Vertiefung Anfang der 1970er Jahre infolge von Rodungen zu bilden begann – erneut eine menschliche Intervention, die den Thermokarst auslöste oder beschleunigte; mit dem Temperaturanstieg nach der Jahrtausendwende wurde das Wachstum des Kraters exponentiell. Einstweilen ist der Batagaika-Megaslump einzigartig, aber man rechnet damit, dass sich in der Taiga weitere derartige Krater bilden werden. Im Jahr 2050 werden vier Millionen Menschen von den Folgen des Thermokarsts betroffen sein, das sind drei Viertel der Bevölkerung in der nördlichen Permafrostzone; die Schäden an der Infrastruktur erreichen ein ähnliches Ausmass. Eine technische Lösung, die das Auftauen des Permafrosts aufhalten könnte, existiert nicht. Ende dieses Jahrhunderts wird sich ein grosser Teil dieser Landschaften in Feuchtgebiete verwandelt haben, andere Regionen werden vom Meer bedeckt sein, eine neue Küstenlinie wird sich herausbilden. Umsiedlungen und Evakuationen dürften schon in naher Zukunft unvermeidlich werden. Ignorierte Gefahr Diese bedrohliche Auswirkung des Klimawandels figuriert bis heute höchstens am Rand des öffentlichen Bewusstseins. Sie betrifft weitgehend isolierte Regionen und ist weder von Satelliten noch mit Fernerkundungsinstrumenten wahrnehmbar. In der Klimadiskussion kam der Permafrost immer an vierter Stelle – nach dem Schwund von Polareis, Schnee und Gletschern. Die Apokalypse, die sich in Jakutien und anderen Regionen auf dem Erdboden abspielt, stand im Schatten der Erkenntnisse über die möglicherweise verheerenden Folgen von Methanemissionen. Allerdings sollte der Gedanke an den in Permafrostböden gebundenen Kohlenstoff nicht weniger Sorge bereiten. Der Permafrost in den arktischen und borealen Zonen enthält zwischen 1460 und 1600 Gigatonnen Kohlenstoff – fast das Doppelte dessen, was sich heute in der Atmosphäre befindet. Das Wort Kohlenstoff bezeichnet hier sowohl

zum Originalbeitrag

Die Links zu weiterführenden Beiträgen und Bilder stehen nur im Originalbeitrag zur Verfügung